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Nach jedem Sonnenuntergang bin ich verwundet und verwaist. Liselotte Richter zum 100. Geburtstag
Liselotte Richter: Philosophie der Dichtkunst. Moses Mendelssohns Ästhetik zwischen Aufklärung und Sturm und Drang (S. 53-54)
Chronos Verlag Berlin 1948, 5–8; 42–47 (Auszüge)
I. Zur Einführung: Unsere heutige Stellung zu Moses Mendelssohn
[6] Alle diese Tatsachen, die eine Bestätigung des Herder-Wortes von Mendelssohn als „Philosophen der deutschen Nation und Sprache" waren, mußten in der jüngst verflossenen Epoche über ein Jahrzehnt hindurch verschwiegen, entstellt oder tendenziös in ihr Gegenteil verkehrt werden. Und so bilden sich heute überall weiße Flecken auf der geistigen Landkarte, wo es sich um bedeutende Kulturleistungen jüdischer Philosophen, Künstler oder Schriftsteller handelt. Der Bann des Schweigens, den der Nazismus über diesen Fragenkomplex geworfen hat, ist immer noch nicht gebrochen worden. Die weißen Flecken auf der Landkarte werden zwar nicht mehr künstlich neu geschaffen und vermehrt werden können. Es kommt aber alles darauf an, nun die Beseitigung der durch die zwölf Jahre nazistischer Geschichtsfälschung entstandenen verzerrten Kulturansicht so schnell wie möglich ins Werk zu setzen. Gerade unsere Jugend, die ja durch jene tendenziösen Entstellungen niemals etwas von den eigentlichen Kulturleistungen des Judentums erfahren hat, würde stillschweigend weiter in diesem falschen Geschichtsbilde aufwachsen, dessen verhängnisvolle Wirkungen von Generation zu Generation zunehmen werden, wenn die passive Duldung und Übernahme des Schweigens über jüdische Kulturleistungen beibehalten wird. Es entsteht so in Analogie zum „kalten Krieg" nach dem Aufhören des Schießkrieges nun auf dem geistig-kulturellen Gebiet ein heimlicher „kalter Antisemitismus", der nach dem äußerlichen Abschluß der grausigen Wirkungen der KZs und Gaskammern das Werk der geistigen Einsargung durch Stillschweigen über das, was die Welt dem Schöpfergeist unserer jüdischen Mitmenschen verdankt, vollenden hilft.
So soll die vorliegende Abhandlung nicht einer nur rückwärts gewendeten historischen Betrachtung dienen, sondern sie hat eine höchst gegenwärtige [7] und aktuelle Aufgabe, als einer der ersten Versuche, dieses verhängnisvolle Schweigen zu brechen, der zu weiteren verwandten Bemühungen Mut machen möchte. Trotz des bekenntnishaften Charakters, der dieser (bereits in den verhängnisvollen zwölf Jahren entstandenen) Arbeit (die damals nirgendwo in Deutschland veröffentlich werden konnte) eigen ist, soll einer solchen Bestrebung zur Wie derherstellung der geistesgeschichtlichen Gerechtigkeit jedoch keineswegs das Gewaltsame einer umgekehrten Tendenz verliehen werden, das entstehen könnte, indem man sich allzu eifrig und krampfhaft bemüht, ein lange schon bestehendes Versäumnis nachzuholen. Nein, es sollen nichts als die Tatsachen, die man bisher zum Schweigen verurteilte, selber sprechen, aber sie müssen nun auch sprechen, um der wissenschaftlichen Objektivität endlich wieder Raum zu geben. Es gibt eine Fülle von Fragen und Wirkungszusammenhängen, die man sonst streng wissenschaftlich nicht aufklären könnte, wenn man weiterhin bisher unerwünschte Themenstellungen mit Schweigen überginge.
So wäre in unserem Falle die Wirkung Mendelssohns auf seine Zeitgenossen nicht zu erklären, wenn man nicht einginge auf die Eigenart und auf den Wert seiner Persönlichkeit wie seiner Denkarbeit. Er gehört der deutschen Bildungsgeschichte an durch seinen Kampf für die Freiheit des Denkens und die Sache der Aufklärung. Es ist nicht hinwegzudenken aus der deutschen Philosophiegeschichte durch seine kritischen und grundlegenden Arbeiten zur Ästhetik und Psychologie. Er ist nicht hinwegzudenken aus der deutschen Literaturgeschichte durch die Anwendung seiner philosophischen Erkenntnisse auf die literarische Kritik. Eben auf jenes Thema konzentriert sich die vorliegende Arbeit. Sie entkräftet allein durch die Heranziehung der Tatsachen die in den zwölf Jahren befehlsgemäß verbreitete Rassenlüge von der „zersetzenden, rein intellektualistischen und rationalistischen" Struktur des jüdischen Denkens. Es stellt sich heraus, daß gerade Mendelssohn, in dem man geneigt ist einen reinen Aufklärungsdenker zu sehen, in der Harmonie und Reinheit seiner Persönlichkeit wie in der unbestechlichen Aufrichtigkeit und Echtheit seines Philosophierens selbst die Grenzen des bloßen Aufklärungsdenkens im Sinne einer „raison étroite" weit hinter sich läßt. Seine Feinfühligkeit, seine große Bescheidenheit und Ehrfurcht vor echter Schöpferleistung lassen ihn etwas ahnen vom Wesen des Genies, das sich niemals vollständig rational in Gesetzen und Regeln einfangen läßt. So wird er der erste ahnende Ankündiger der tiefgreifenden Wirkung Shakespeares im deutschen Geiste. Es, der Freund Lessings, ist und wirkt anregend und befruchtend gerade dadurch, daß in ihm die schöpferische Spannung zwischen Rationalität und Irrationalität lebt und lebendig erhalten wird. Nur vergröbernde Klassifikation einer oberflächlichen Betrachtungsweise kann ihn unter die reinen Rationalisten einreihen.
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