Arbeitssituationsanalyse - Bd. 1: Zur phänomenologischen Grundlegung einer interdisziplinären Arbeitsforschung

von: Christina Meyn, Gerd Peter

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2010

ISBN: 9783531923611 , 347 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 42,25 EUR

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Arbeitssituationsanalyse - Bd. 1: Zur phänomenologischen Grundlegung einer interdisziplinären Arbeitsforschung


 

4. Texte aus ergänzenden Perspektiven (S. 297-298)

4.1 Formale Organisation und Situation (LUHMANN)

Auszug aus: Niklas Luhmann, Eigenrecht der Situation, in: Funktion und Folgen formaler Organisation, Berlin: Duncker&Humblot, 5. Au?. 1999, Seiten: 295-303 (Anmerkungen wurden nicht übernommen)

Eigenrecht der Situation

Die letzten beiden Kapitel haben unser Interesse an ungeplanten Diskrepanzen in formalisierten Systemen geweckt und verfeinert. Die faktischen Kontakte sind kein exakter Abzug der geltenden Erwartungen, die Erwartungen selbst sind In formale und informale gespalten. Diese Trennlinien mitsamt den Verhaltensweisen, die zu ihrer Überbrückung dienen, haben eine positive Funktion, wenn es darum geht, komplexe Sozialsysteme faktischen Verhaltens lebensfähig zu erhalten.

Sie werden jedoch von der formalen Organisation ignoriert. Es gehört zur Logik der formalen Organisation, daß sie keine Widersprüche anerkennt. Ihre allgemeinen Regeln erheben den Anspruch, in jeder einzelnen Situation verbindlich zu sein. Was vorgeschrieben ist, soll so ausgeführt werden, wie es vorgeschrieben ist. Wir wollen in diesem Kapitel diesen Anspruch in die Einzelsituation hinein verfolgen und untersuchen, wie er dort behandelt wird. Dabei wird zugleich deutlich werden, weshalb die genannten Diskrepanzen unvermeidlich sind.

Die normativistischen Sozialtheorien haben sich die Antwort auf diese Frage relativ leicht gemacht. Sie identi?zieren sich mit den Perspektiven der formalen Organisation und sagen: Die allgemeinen Regeln sollen in konkreten Situationen beachtet, die Vorschriften ausgeführt, die Zwecke verwirklicht werden. Die planmäßige Rationalität des Gesamtsystems solle sich gradlinig und ungebrochen in die konkrete Situation fortsetzen. Die Situation selbst hat keine Autonomie, sondern allenfalls einen begrenzten Ausführungsspielraum, der ihr von der formalen Organisation konzediert ist.

Jede faktische Abweichung vom allgemeinen Programm hat somit als falsches Handeln zu gelten. Das falsche Handeln kann, wenn die Sozialordnung mit den formalen Normen zusammenfällt, nicht sozial, sondern nur persönlich bedingt sein. Es erklärt sich aus den Schwächen oder der Widerborstigkeit der menschlichen Natur. Die Schwierigkeit wird darin gesehen, den Menschen durch Überredung oder Zwang so zu motivieren, daß er auf rechten Wegen wandelt. Diese Auffassung versteht die formale Organisation als ein Netz von Handlungsvorschriften, die möglichst getreu ins Handeln übertragen werden müssen, sie verkennt ihre Funktion als Struktur eines großen Sozialsystems. Achtet man auf die strukturierende Funktion der formalen Normen, so drängt sich die Vermutung auf, daß die Strukturierung großer Sozialsysteme andere Probleme stellen könnte als die Strukturierung einzelner Situationen.