Warum Eltern Ratgeber lesen - Eine soziologische Studie

von: Christian Zeller

Campus Verlag, 2018

ISBN: 9783593440323 , 367 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 30,99 EUR

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Warum Eltern Ratgeber lesen - Eine soziologische Studie


 

Vorwort In den letzten Jahrzehnten hat sich die empirische Sozialforschung verstärkt den Umstand zunutze gemacht, dass heute für die verschiedensten Herausforderungen des individuellen Lebensvollzugs Beratungsangebote vorliegen, die entweder die Gestalt persönlicher Gespräche mit geschultem Fachpersonal oder die eines Ratgebers in Buchform besitzen; aus den Gehalten dieser von Experten unterbreiteten Empfehlungen hofft man, Auskunft wenn nicht über das tatsächliche Verhalten der Ratsuchenden, so doch über gesellschaftlich vorherrschende Erwartungsmuster zu finden. Die vorliegende Studie, der eine Dissertation am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main zugrunde liegt, geht über solche Versuche einer soziologischen Indienstnahme der grassierenden Ratgeberliteratur weit hinaus; ihr Autor, Christian Zeller, ist sich der mannigfaltigen Probleme viel zu bewusst, die sich aus dem Vorsatz ergeben, derartiges Schrifttum einfach und unvermittelt als Quelle soziologischer Zeitdiagnosen zu benutzen. Zwar interessiert ihn, was sich aus dem besonderen Genre der pädagogischen Ratgeberliteratur darüber in Erfahrung bringen lässt, von welchen Spannungen, Krisen und Beunruhigungen heute der elterliche Umgang mit ihren Kindern geprägt ist; aber zu diesem Zweck wertet er nicht einfach inhaltsanalytisch die entsprechenden Schriften aus, sondern untersucht im empirischen Kern seiner Studie skrupulös, wie einige nach Rat suchende Mütter die ihnen in Buchform dargebotenen Empfehlungen zur Kindererziehung verarbeiten und in die Praxis umzusetzen versuchen. Aus diesem Unternehmen ist am Ende eine sehr komplexe Studie geworden, die in einem Zug sowohl eine historische Rekonstruktion des beispiellosen Aufstiegs von Elternratgebern, eine Unterrichtung über die verwendete Methode der Objektiven Hermeneutik und schließlich eine Analyse des zeitgenössischen Umgangs mit den schriftlichen Erziehungshilfen liefert; nicht übertrieben dürfte daher die Behauptung sein, dass uns hier exemplarisch vorgeführt wird, welche fruchtbaren, gewinnbringenden Einsichten die Soziologie dem Studium der wachsenden Flut an Ratgeberliteratur abringen kann, wenn nur klug und umsichtig genug damit umgegangen wird. In der Einleitung zu seiner Studie umreißt Christian Zeller zunächst in knapper, aber äußerst informativer Form, in wie vielen Lebensbereichen der Rekurs auf Expertenrat heute zur Normalität geworden ist, um dann auf die Vielzahl unterschiedlichster Elternratgeber allein auf dem deutschsprachigen Buchmarkt einzugehen. Auf dieser Basis formuliert er das Ziel seiner Untersuchung, der es im Kern um die Frage geht, woraus sich in unserer Gegenwart das Bedürfnis und die Bereitschaft von Eltern speisen, in ihrem erzieherischen Verhalten auf Expertenrat zurückzugreifen. Dabei macht er sogleich deutlich, dass er seine Antwort vor dem Hintergrund des historischen Siegeszugs der Idee der 'Förderung' von Kindern suchen möchte, also einer Vorstellung von Erziehung, der es um die Entfaltung der 'Potentiale des Nachwuchses zum Zweck des allgemeinen und individuellen Wohls' zu tun ist. Ist damit umrissen, dass untersucht werden soll, wie Eltern dieses Erziehungsziel in ihren eigenen Deutungen mit der Verwendung von Erziehungsratgebern verknüpfen, so folgt anschließend ein kurzer Überblick zur bisherigen Forschung zum Thema: Die einschlägige Literatur hat sich bisher, so die überzeugende Diagnose, vornehmlich auf die semantische oder diskursive Analyse der sich in Elternratgebern manifestierenden, zumeist wissenschaftlich fundierten Erziehungslehren konzentriert; dem steht nur ein kleiner Forschungsstrang gegenüber, der sich mit der innerfamilialen Rezeption von Elternratgebern befasst, um zu erkunden, mit welchen Absichten und Selbstdeutungen solche Schriften zu Rate gezogen werden. Beide Forschungsstränge, die Inhaltsanalyse und die Rezeptionsforschung, möchte Christian Zeller nun in seiner Untersuchung mit Hilfe einer sinnrekonstruktiven Methodologie verknüpfen, für die die Objektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns das Vorbild darstellt. Das nächste, zweite Kapitel verfolgt dementsprechend in seinem ersten Teil das Ziel, eine Einführung in die Sozialtheorie und Methodologie der Objektiven Hermeneutik zu liefern. Noch ohne jeden Bezug zu seiner eigenen Fragestellung erläutert Christian Zeller, dass die menschliche Sozialität in der Objektiven Hermeneutik durchgängig als sinnhaft strukturiert aufgefasst wird, allerdings in einer Weise, die sich vom interpretativen Paradigma der phänomenologischen Schule stark unterscheidet. Es geht nicht darum, den subjektiv vermeinten Sinn von Akteuren zu rekonstruieren, sondern die objektive Bedeutung sozialer Sinnzusammenhänge, die sich daraus ergeben soll, dass sie im Allgemeinen einer regelgeleiteten Praxis entspringen. Dieser 'objektive' Sinn wird, so fährt Christian Zeller fort, mit Hilfe einer objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse erschlossen, in welcher sich im Zuge der Rekonstruktion von Fallstrukturen sinnhaftes Verstehen und kausales Erklären miteinander verschränken. Zentral für die weitere Untersuchung ist dann allerdings der Oevermannsche Begriff der 'Krise', der auf Situa­tionen abzielt, in denen die routinisierten Muster der Lebenspraxis versagen und zwei Merkmale menschlichen Handelns daher erst vollends sichtbar werden: der Entscheidungszwang und die Begründungsverpflichtung. Im Lichte dieser Konzeption versteht Christian Zeller fortan Erziehungsratgeber als Antworten auf Krisen, nämlich als Reaktionen auf elterliche Handlungsprobleme in der Sozialisation ihres Nachwuchses, die Entscheidungen erfordern und Begründungspflichten mit sich bringen. Von eigenständiger Bedeutung ist dabei, wie Christian Zeller anschließend die Gründe für diese Krisenhaftigkeit des elterlichen Erziehungsverhaltens darlegt; er erblickt sie in der kindlichen Schutzbedürftigkeit, in der Teilnahme der Eltern an den aufeinanderfolgenden Ablösungskrisen des Kindes sowie in der modernen Konzeption von Elternschaft, mit der ein ständiger Bewährungsanspruch einhergehe. Fraglos könnte das anschließende, dritte Kapitel auch als eine kleine, unabhängige Monografie erscheinen, wird darin doch in beeindruckender, höchst souveräner Weise die heutige Verbreitung, die Pragmatik und die historische Genese von Erziehungsratgebern zur Darstellung gebracht. Chris­tian Zeller beginnt seinen Bericht mit einem kenntnisreichen Überblick über das breit gefächerte Genre des Erziehungsratgebers, um dann spezifischer auf das Angebot von Ratgebern einzugehen, die sich der Förderung von Kindern verschrieben haben und insofern im Mittelpunkt des Forschungsinteresses der vorliegenden Studie stehen sollen. Die hohen Auflagen dieser Ratgeber verdanken sich, wie wir aus entsprechenden Studien wissen, vor allem der starken Nachfrage von Frauen aus mittleren und höheren Einkommens- und Bildungsschichten, die sich Hilfe bei ihren Erziehungsaufgaben erhoffen. Das besagt freilich noch wenig, wie der Autor unverzüglich klarstellt, über die Rezeption und die erzieherische Aneignung von Förderratgebern. Um sich dieser wichtigen Frage anzunähern, erläutert er in einem ersten Schritt die Pragmatik des Ratschlags im Allgemeinen und des professionellen Ratschlags im Besonderen. Es handelt sich dabei, wie man mit Wittgenstein sagen könnte, um eine Rekonstruktion verschiedener Sprachspiele, die sich durch die Regeln des Ratgebens konstituieren. In einer aus der Sprechakttheorie bekannten Manier beschreibt Christian Zeller in bewundernswerter Klarheit ein Normalmodell des gelingenden Ratschlags, das durch vier Merkmale bestimmt sein soll: 1. durch das Vorhandensein einer Entscheidungskrise bei der Ratnehmerin; 2. durch die implizite oder explizite Angabe von Gründen und Motiven seitens der Ratgeberin; 3. durch die Unterstellung eines entsprechenden Beurteilungsvermögens bei dieser Person oder Instanz; und 4. schließlich durch die Autonomie der Ratnehmerin hinsichtlich der Annahme und Umsetzung des Rates. In völlig plausibler Weise expliziert Christian Zeller in diesem Zusammenhang, inwiefern ein krisenloser, unbegründeter oder inkompetenter Ratschlag die Handlungsautonomie der Beratenden gefährdet oder vielmehr gefährden kann. An die Analyse der Pragmatik des Ratschlagens schließen erhellende Ausführungen zu den besonderen Eigenheiten des professionellen und in Buchform präsentierten Ratschlags an; diese werden ergänzt durch einige Hinweise auf die Implikationen des Gegenstands von Elternratgebern, nämlich 'Erziehung', sowie durch eine Klärung des Begriffs der 'Kindesförderung'. Im weiteren Verlauf des dritten Kapitels wendet sich Christian Zeller den historisch entstandenen Voraussetzungen zu, unter denen Ratgeber zur Erziehung und Förderung von Kindern entstehen und rezipiert werden konnten; als Leitfaden dienen ihm dabei die zuvor genannten vier formalpragmatischen Merkmale des Ratgebens. Diese Merkmale verfolgt er nun in diachroner Perspektive. Er verortet ihre Herausbildung einerseits in der Ausdifferenzierung der modernen Kleinfamilie zu einer autonomen Handlungssphäre und in der Vermehrung von erzieherischen Entscheidungskrisen infolge von Prozessen der Enttraditionalisierung, andererseits im verstärkten Einzug verwissenschaftlichter Bewertungsmaßstäbe in das Erziehungsgeschehen sowie in einer zunehmend reflexiven Wendung der erzieherischen Begründungs- und Legitimationsmuster. Damit kann der Verfasser die Genese des Elternratgebers nicht nur rekapitulieren ? entsprechende Darstellungen existieren ja bereits ?, sondern die 'Logik' seiner Entwicklung anhand jener Strukturmerkmale rekonstruieren. Dieser Abschnitt präsentiert insofern ein beeindruckendes Panorama von Erziehungsvorstellungen und damit verbundenen professionellen Ratschlägen. Beginnend mit dem vormodernen Elternrat, der sich mit der Autorität der christlichen Lehre und vor dem Hintergrund der schwarzen Erbsünden-Anthropologie an die Väter des 'ganzen Hauses' richtete, macht Christian Zeller deutlich, welch tiefen Einschnitt die Aufklärung mit sich brachte; sie konzipierte die Kindheit, wie anhand von John Locke und Jean-Jacques Rousseau gezeigt wird, als 'Lebensphase eigenen Rechts' und entwickelte ein Bild vom Kind, das dieses auf der Basis seiner eigensinnigen und auf das Genaueste zu beobachtenden Natur als ein form- und optimierbares Wesen erscheinen lässt. Schnell wird indessen auch deutlich, dass die nachaufklärerische Pädagogik zwischen einer empathischen Ausrichtung auf das Kind und einer utilitaristischen Orientierung schwankte, die in Kindern lediglich den künftigen, gesellschaftlich nutzbringenden Erwachsenen sah. Danach setzt, so die überaus spannend zu lesende Rekonstruktion, eine im 18. Jahrhundert beginnende, sich aber erst im 19. Jahrhundert voll entfaltende Entwicklung ein, in deren Verlauf Elternratgeber zunehmend medizinische und pädagogische Wissensbestände aufgreifen, die erneut einen repressiveren Charakter annehmen und die familiale Erziehung durch eine verwissenschaftlichte Schulpädagogik vervollkommnen, wenn nicht gar substituieren wollen. Das 20. Jahrhundert beschreibt der Autor im nächsten Schritt zu Recht als eine Phase, in der die Psychologie zur Leitdisziplin der Elternratgeber avancierte und unterschiedlichste psychologische Theorierichtungen - vom Behaviorismus bis zur Psychoanalyse, von der Bindungstheorie bis zur kognitiven Entwicklungspsychologie - stark divergierende Ausgestaltungen der Eltern-Kind-, besonders aber der Mutter-Kind-Beziehung nahelegten. Über die bereits während der 1930er und 1940er Jahre in den USA, vor allem durch Arnold Gesell und Benjamin Spock einsetzende Kritik am pädagogischen Szientifismus wurden die weiteren Entwicklungen stetig durch eine Relativierung des Expertenwissens begleitet; eine Skepsis gegenüber einer Erstickung spontaner Eltern-Kind-Interaktionen im Zuge einer verwissenschaftlichten Erziehung hielt Einzug in die Ratgeberliteratur. Dies führte, nach einer glücklichen Formulierung des Autors, schließlich dazu, dass sich in heutigen Elternratgebern weithin eine Haltung der 'reflexiven Verwissenschaftlichung' durchgesetzt hat, die freilich auch der formalpragmatisch angelegten Autonomie im Umgang mit einem Ratschlag besonders entgegenkommt. Gleichwohl verschweigt Christian Zeller keineswegs, dass die für Förderratgeber immer schon spezifische Spannung zwischen einer Erziehung, die der Vorbereitung auf eine vom Wettbewerb geprägte Gesellschaft dienen soll, und einer Erziehung, die in der Selbstentfaltung des Kindes das höchste Ziel sieht, sich in Zeiten neoliberaler Ökonomisierungs- und Optimierungstendenzen eher verschärft als verringert hat. Das umfangreichste, vierte Kapitel der Arbeit, das auf einer vom Autor selbst durchgeführten empirischen Untersuchung beruht, widmet sich der von Anfang an leitenden Frage, wie Elternratgeber heute von Müttern kleiner Kinder mit eigenständigen Deutungen versehen und in der alltäglichen Erziehungspraxis verarbeitet werden. Zu diesem Zweck beschreibt Christian Zeller zunächst die Methode der Datenerhebung anhand problemzentrierter Interviews mit narrativen Anteilen, die sequenzanalytische Auswertungsmethode und schließlich das Zustandekommen des Samples, das aus sechs Interviews mit Müttern von Kindern bis zum Vorschulalter besteht. Es folgen sechs - mit Ausnahme des vierten Falls - streng symmetrisch angelegte Fallstudien, die schnell deutlich werden lassen, über welch ein ungewöhnliches Maß an hermeneutischen Fähigkeiten der Verfasser verfügt. Erlebt man es in der qualitativen Forschung häufig, dass die Interpretationen nur wenig über eine reformulierende Wiedergabe des präsentierten empirischen Materials hinausgehen, so wird hier vorgeführt, was es heißen kann, den Stoff zugleich fantasievoll und doch stimmig, zugleich theoriegeleitet und doch materialnah zu deuten; ein wahres Lesevergnügen ist es daher, Christian Zeller dabei zu folgen, wie er aus wenigen Interviewpassagen die Fallstruktur herausarbeitet, in welche die Rezeption von Erziehungsratgebern bei den Müttern jeweils eingebettet ist. Im ersten Fall, dem von Frau Kucera, ist die Struktur dadurch bestimmt, dass ihr das Konsultieren von Ratgebern eine Abkehr von der Herkunftsfamilie erlaubt, deren intellektualistischen und 'verkopften' Erziehungsstil sie als defizitär erlebt hat. Durch Ratgeber kann die befragte Mutter in eine reflexive Distanz zu ihren eigenen Sozialisationserfahrungen treten und ihrer Tochter jene Bildungs- und Erfahrungsräume eröffnen, die ihr verwehrt geblieben waren. Der zweite Fall von Frau Nasser ist strukturell ähnlich gelagert, in ihm ist jedoch die Rolle des Ratgebers als Sensibilisierungsfolie stärker betont; in Abgrenzung zum traditionalistischen Elternhaus sollen hier die Ratgeber eine einfühlsamere Haltung gegenüber den Wünschen und Bedürfnissen der Tochter ermöglichen. Bei Frau Heider, die den dritten Fall repräsentiert, ist eine starke Tendenz festzustellen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse und die an sich wahrgenommenen Defizite auf ihren Sohn projiziert. Auf der Basis eines 'Kindheitsdeterminismus' gerät sie in eine vom Optimierungsstress induzierte 'Beratungsspirale', die darauf beruht, dass sie auf ein Experten-Modell von Erziehung fixiert ist. Alltägliche Aktivitäten mit ihrem Fünfjährigen, die sie als Fördermaßnahmen begreift, nähert sie an die Zwänge und Anforderungen der Berufs- und Arbeitswelt an. Im Fall von Frau Pawlo werden einige bereits bekannte Strukturmerkmale der Ratgeberrezeption durch ihre Migrationsgeschichte variiert. Diesen vierten Fall nutzt Christian Zeller jedoch vor allem für eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass Erziehungs- und Förderratgeber vornehmlich von Müttern gelesen werden - was auch ein Licht auf den Umstand zurückwirft, dass sich keine Väter auf seine auch an sie gerichteten Interviewaufrufe gemeldet haben. Seine Analyse zum geschlechtsspezifischen Rekurs auf Elternratgeber stellt ein Glanzstück der Untersuchung dar. Auf der Basis eines mitgeschnittenen Gesprächs im Anschluss an das Interview, bei dem auch der Ehemann von Frau Pawlo zugegen war, macht er auf die folgende, vor dem Hintergrund gängiger Geschlechterstereotypen wohl überraschende Konstellation aufmerksam: Während die Frau in Büchern professionellen Rat und Bestätigung für ihr erzieherisches Handeln sucht, problematisiert der Mann die mangelnde Fallspezifität von Ratgebern und verlässt sich stattdessen lieber auf sein 'Gefühl' - die gefühlte Intuition zieht der Vater hier der Lektüre von Ratgebern vor, zumal er von sich behauptet, seine Kinder doch viel besser als jeder Experte zu kennen. Dieser hier explorativ festgestellte und mit Passagen aus anderen Interviews übereinstimmende Befund würde gewiss eine weitergehende Untersuchung verdienen; vom Autor wird er im Lichte weiterer Ergebnisse der Gender- und Ratgeberforschung betrachtet, zugleich aber auch in den Zusammenhang mit einer langen pädagogischen Tradition gerückt, in der Erziehungsratgeber in erster Linie Müttern stetig suggerierten, dass sie des Expertenrats bedürfen. Bei Frau Michels, dem fünften Fall, besitzt die Lektüre von Elternratgebern ebenfalls eine stark generationale Bedeutung, diesmal jedoch als Abgrenzung vom Traditionalismus der Großelterngeneration. Wesentlich für diese Fallstruktur ist nach Überzeugung von Christian Zeller jedoch, dass sich Frau Michels jenen Traditionalismus wiederum reflexiv aneignet, indem sie das naturwüchsige 'Mitleben' von Kindern als Erziehungsmittel einsetzt und als Korrektiv gegen die bereits von ihrer Mutter praktizierte Ratgeberlektüre begreift, von der sich die Erzieherin sonst leicht verschlingen lässt. Der sechste Fall, der von Frau Kellner, scheint zunächst so strukturiert zu sein, dass ihr die Elternliteratur eine Kontinuität zu der von ihr als 'reaktionär' bezeichneten Erziehungspraxis ihrer eigenen Eltern sichert ? auch wenn hier das Material eine weniger klare Sprache spricht als in den anderen Fällen. Jedenfalls ist für Frau Kellner zentral, dass ihr zufolge alle Erziehungsbemühungen an der Persönlichkeit des Kindes ihre Grenze finden. Während Ratgeber in anderen Fällen, stark etwa bei Frau Michels, als Hilfe für eine bessere Einfühlung in das Kind und seine Lebensäußerungen fungieren, sind sie im letzten Fall eher ein Instrument, das für die kindspezifische Begrenztheit aller pädagogischen Bemühungen sensibilisiert. Unter der programmatischen Überschrift 'Erziehungsratschläge und Lebenspraxis' kommt Christian Zeller schließlich in einem gesonderten Abschnitt auf die schon zuvor stets wieder auftauchende Frage zu sprechen, ob die Verwendung von Erziehungsratgebern die Gefahr einer Subsumption der erzieherischen Praxis unter den Expertenrat mit sich bringt oder ob nicht vielmehr eine Resistenz der Lebenspraxis gegen eine Kolonialisierung des Sozialisationsgeschehens festgestellt werden kann. Bei den befragten Müttern herrscht, wie der Autor an zahlreichen Interviewpassagen zu demonstrieren vermag, ein - unterschiedlich graduiertes, doch zumeist starkes - Bewusstsein für die Risiken einer Subsumption des erzieherischen Handelns unter wissenschaftliche Deutungsmuster und einer wenig kontextsensitiven Anwendung von Expertenempfehlungen vor. Nicht nur betonen die Mütter die Notwendigkeit einer Überprüfung der Ratschläge durch je eigene Refle­xion, sondern sie formulieren auch normative Grenzen für deren Umsetzung, etwa wenn sie - wie Frau Kucera und Frau Pawlo - die von einem Ratgeber empfohlenen Methoden, wie diesbezüglich schwierige Kinder zum Schlafen gebracht werden können, als 'grausame Dressur' ablehnen. Sehr schön wird auch herausgearbeitet, dass die starke Orientierung an den individuellen Eigenheiten des Kindes und eine empathische Einstellung zu seinem Erleben Sperren errichten, die sich einer schlichten Anwendung der Erziehungsempfehlungen entgegenstellen. Verfolgt man diesen wichtigen Punkt weiter, so zeigen sich in den Befunden des Autors noch weitere derartige 'Subsumtionssperren', also lebensweltliche Eigenheiten, die es den Müttern nahezu unmöglich machen, den von ihnen benutzten Ratgebern einfach zu folgen und deren Anweisungen punktgenau umzusetzen; neben der erwähnten Aufmerksamkeit für die ureigenen Impulse des eigenen Kindes gehören dazu auch situative und zeitliche Restriktionen des familialen Alltags sowie die deutlich verspürten Widersprüchlichkeiten der Ratschläge. In dem synoptischen Fallvergleich, den er am Ende dieses lehrreichen Abschnitts vornimmt, kehrt Christian Zeller zu zwei Elementen der von ihm zuvor entwickelten Pragmatik des Ratschlags zurück, die ihm angesichts seiner Befunde von besonderem Gewicht scheinen: die sogenannte 'Entscheidungskrise' und die 'Anwendungsautonomie' der Ratsuchenden. Was die Entscheidungskrise anbelangt, die den Rückgriff auf die Erziehungsratgeber ursprünglich motiviert hatte, so zeigt sich, dass diese weniger durch Handlungsprobleme im erzieherischen Umgang mit dem Kind bedingt war als vielmehr durch biografisch grundierte Auseinandersetzungen mit der Eltern- oder Großelterngeneration: In vier der sechs Fälle finden die Mütter die Lösung für ihre aus Verstrickungen in die eigene Kindheitsgeschichte resultierende Problemlage insofern in Ratgebern, als sie in ihnen ein Mittel erblicken, den Anspruch an eine kindzentrierte, die Persönlichkeit des Kindes respektierende Erziehung einzulösen. Dieser Befund gibt gleichzeitig aber auch schon Auskunft über das, was Christian Zeller als Anwendungs- oder Umsetzungsautonomie bezeichnet hatte: Nur dort, wo - wie im Fall von Frau Heider - ein stark projektives Verhältnis zum eigenen Sohn vorliegt, scheint die Autonomie in der Aneignung von Erziehungsratschlägen erheblich eingeschränkt; in all den anderen Fällen aber, die vorher präsentiert worden waren, kann der Autor den Müttern ein hohes Maß der autonomen Aneignung des Expertenrats im Rahmen einer unverstellten Eigenlogik der lebensweltlichen Erziehungspraxis attestieren. Eine glänzende Idee des Autors ist es, im Schlusskapitel seiner Studie die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als eine Art von Folie zu benutzen, um vor ihrem Hintergrund aus den eigenen Befunden ein Resümee ziehen zu können. Dabei verfährt er so, dass zunächst die düstere Zeitdiagnose der beiden Vertreter der älteren Kritischen Theorie daraufhin befragt wird, wie sich in ihrem Licht die inzwischen stark angewachsene Verwendung von Erziehungsratgebern ausnehmen würde, um dann im zweiten Schritt zu prüfen, was demgegenüber die eigenen Forschungsergebnisse über diese neue Praxis besagen. Nach einer ersten Deutung der Dialektik der Aufklärung, so führt Christian Zeller aus, würden Elternratgeber vermutlich dazu anleiten, in der Erziehung von Kindern nur noch verwissenschaftlichte Gründe gelten zu lassen, die den Status einer quasimythologisch aufgeladenen Autorität erhielten; nach einer zweiten Lesart hingegen geriete das erzieherische Handeln in der Familie durch die Lektüre von Ratgebern unter das Diktat einer zweckrational vereinseitigten Vernunft, welche die Sozialisation auf ihre Funktion für eine von ökonomischen Verwertungsinteressen beherrschte Gesellschaft reduziert. Beide Deutungen glaubt Christian Zeller, obwohl ihm selbst häufig die szientistische oder pseudowissenschaftliche Erkenntnishaltung der Ratgeber äußerst suspekt ist, auf der Basis seiner empirischen Befunde zurückweisen zu können; er sieht drei Faktoren, die der vermuteten Wissenschaftsgläubigkeit und Folgebereitschaft entgegenstehen und daher einen durchaus autonomen, den Einzelfall berücksichtigenden Umgang mit den Ratgebern fördern: das Aufkommen einer verstärkten Kindorientierung in der Erziehung, die mit der Pluralisierung der Familienformen zusammenhängende Unschärfe des Elternrates und die wachsende Kritik an der Technokratie des Expertenwissens, die sich auch in der Haltung zu Ratgebern niederschlägt und deren autonome, auf Selbstentfaltung des Kindes ausgerichtete Rezeption unterstützt. Vor dem Hintergrund teilweise gegenläufiger Diagnosen aus der familiensoziologischen Literatur hält der Autor daher resümierend fest: 'Die These, dass Eltern wie Marionetten an den Suggestionen der Expertendiskurse hängen, wie dies tendenziell eine an der älteren Kritischen Theorie geschulte Per­spektive nahelegen würde, muss also aufgrund der vorliegenden Forschungsbefunde deutlich eingeschränkt werden.' Allerdings muss Christian Zeller ebenso feststellen, dass Elternratgeber nicht selten in subtil versteckter Form die Neigung besitzen, die Förderung von Kindern an ökonomische Nützlichkeitskriterien anzugleichen und auf eine an neoliberalen Erfordernissen geschulte Verhaltensoptimierung auszurichten; nur setzt sich auch diese Tendenz seiner Meinung nach nicht ungebrochen durch, wie er abschließend in seinem Resümee festhält: 'Vielmehr ist die Sensibilitätssteigerung gegenüber den kindlichen Bedürfnissen ein originärer Ausdruck lebensweltlicher Ra­tionalisierung, der dann allerdings auch von ökonomischen und politischen Imperativen [...] in Beschlag genommen werden kann.' An Sätzen wie diesen mag man erkennen, dass die Studie von Christian Zeller auf weit mehr hinaus will, als bloß empirisch zu belegen, dass Eltern oder, genauer, Mütter gegenwärtig von der sie überflutenden Literatur zur Erziehungsberatung einen relativ autonomen Gebrauch zu machen vermögen; untergründig geht es ihm in seiner breit angelegten Untersuchung viel stärker noch darum, den Nachweis anzutreten, dass sich im liberalen Erziehungsstil heutiger Familien auch dann ein Potential kommunikativer Sensibilität für die Selbstentfaltung des Kindes Bahn bricht, wenn im Falle von Unsicherheiten und Krisen auf solche, nicht selten fragwürdige Ratgeber hilfesuchend zurückgegriffen wird. Insofern ergänzt das vorliegende Buch auf erhellende Weise die Untersuchung, die wir im letzten Jahr unter dem Titel 'Neue Väter?' in unserer Reihe veröffentlicht haben; wurde darin untersucht, wie Eltern heute angesichts der weitgehend akzeptierten Gleichheitsnorm um die veränderte Rolle des Vaters im Familienverband ringen, so wird hier, in der bahnbrechenden Studie von Christian Zeller, dargelegt, dass sich zumindest gegenüber den Kindern längst ein gravierender Einstellungswandel vollzogen hat, der deren individuelles Wohl ins Zentrum familiärer Aufmerksamkeit hat rücken lassen. Beide Bücher geben so, jedes auf seine Weise, einen Einblick in den tiefgreifenden Wandlungsprozess, in dem sich die herkömmliche Kleinfamilie am Beginn des 21. Jahrhunderts befindet. Axel Honneth und Ferdinand Sutterlüty Frankfurt am Main, im Juli 2018