Bilingualismus in der frühen Kindheit

von: Kirstin Kannwischer

Diplomica Verlag GmbH, 2008

ISBN: 9783836614979 , 63 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 33,00 EUR

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Bilingualismus in der frühen Kindheit


 

Kapitel 2.3, Das optimale Alter

Bei der Diskussion um den Erwerb einer zweiten Sprache steht immer wieder die Frage nach dem ‚optimalen Alter’ im Mittelpunkt. Wie zuvor gesehen wurde, benötigen Kinder, die beide Sprachen in der frühen Kindheit erworben haben, lediglich einen Speicher für beide Sprachen, während beim Zweitspracherwerb im Erwachsenenalter ein weiterer Speicher für die zweite Sprache geschaffen werden muss, wodurch den Erwachsenen das Erlernen einer weiteren Sprache häufig schwerer zu fallen scheint. Doch ist dies tatsächlich so? Und gibt es so etwas wie ein ideales Alter für das Erlernen einer zweiten Sprache? Die Beantwortung dieser Fragen und damit zusammenhängende Vorstellungen sollen in diesem Teil behandelt werden.

Unter Linguisten, Fremdsprachendidaktikern, Entwicklungspsychologen und Neurobiologen gilt die These, dass Kinder im Vorschulalter günstigere Voraussetzungen für den Zweitspracherwerb besitzen, als erwiesen. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Kinder in diesem Alter die Sprache unbewusst erlernen und daher mit einer unbefangenen und aufgeschlossenen Art die neue Sprache nachahmen und so lernen. Die Kinder erfahren das Erlernen einer weiteren Sprache nicht als etwas Zwingendes und nehmen die zweite Sprache noch nicht als Fremdsprache wahr. Daher kommen sie der neuen Sprache auch mit hoher Motivation und ohne Hemmungen entgegen. In frühem Alter erwerben Kinder eine Sprache daher unbewusst, was zum Vorteil hat, dass die Kinder die zweite Sprache in den meisten Fällen besser beherrschen als Personen, die die Zweitsprache erst im Erwachsenenalter erworben haben. Frühe Bilinguale erreichen in einigen Sprachbereichen überlegene Fähigkeiten, was sich insbesondere beim Hörverstehen und bei der Aussprache bemerkbar macht. Ein weiterer Vorteil, den der Zweitspracherwerb in der frühen Kindheit mit sich bringt, ist die Tatsache, dass Kinder durch den frühen Kontakt mit fremden Kulturen und Sprachen Offenheit und Toleranz lernen. Aus diesem Grund wird insbesondere aus pädagogischer Sicht empfohlen, Kinder bereits früh in ihrer Einstellungen anderen Kulturen gegenüber positiv zu beeinflussen, denn bereits mit acht Jahren ist das Bewusstsein der Kinder, dass es unterschiedliche ethnische Gruppen gibt, vorhanden und ab zwölf Jahren gibt es in ihrer Vorstellung eine trennende Wirkung in Bezug auf andere Kulturen. Ein weiterer Vorzug für den frühen Beginn des Zweitspracherwerbs sieht Titone darin, dass die Nachahmung bei Kindern eine große Rolle spielt und sie dadurch die zweite Sprache erlernen können. Titone legt das optimale Alter für den Beginn früher Zweisprachigkeit zwischen vier und fünf Jahren fest, da „at this age the imitative capacities of the child are at their highest development and receptivity to socialisation via verbal communication is at the greatest.“ Doch auch wenn Titone das ideale Alter festgelegt hat, so ist dies keineswegs ein Beweis dafür, dass es jenes tatsächlich gibt. Einig sind sich die meisten Wissenschaftler lediglich darüber, dass der frühe Zweitspracherwerb aufgrund von unbewussten und ungezwungenen Prozessen leichter zu erlangen ist. Es ist jedoch nicht gesagt, dass eine Person, die die zweite Sprache erst im Erwachsenenalter erlernt hat, nicht ähnliche oder sogar gleiche sprachliche Kompetenzen in der Zweitsprache erreichen kann. Darum geht es unter anderem auch in der Hypothese von der ‚kritischen Periode’.

Die ‚kritische Periode’:Die Idee einer ‚kritischen Periode’ stammt ursprünglich von Penfield & Roberts, rückte aber erst durch Lennebergs umstrittene Theorie in den Mittelpunkt der Diskussion. Sie besagt, dass in einer bestimmten Zeitspanne, die ungefähr vom zweiten Lebensjahr bis in die Pubertät reicht, die sprachliche Entwicklung aktiviert werden muss, um einen normalen Verlauf nehmen zu können. In dieser Periode erfolge der Spracherwerb mit sehr geringer Anstrengung, da das kindliche Gehirn noch sehr flexibel sei, diese Eigenschaft jedoch zunehmend verliere. Während der kritischen Periode verfüge das Gehirn über eine gewisse Plastizität, durch die das Kind den Zugang zu einer besonderen Form des Spracherwerbs, nämlich der des Erstspracherwerbs, erhalte. Wenn das Kind bilingual aufwächst, erlernt es demzufolge innerhalb dieser Phase beide Sprachen wie zwei Erstsprachen. Nach dieser Zeitspanne sei das Gehirn nicht mehr länger in der Lage, Sprachen auf diesem Weg zu erlernen, da das Gehirn an Plastizität verliere und die linke Hemisphäre sich auf die Sprachfunktionen spezialisiert habe. Das bedeutet nun nicht, dass nach dieser kritischen Periode keine weiteren Sprachen mehr gelernt werden könnten, jedoch werden diese qualitativ anders sein als der Spracherwerb in der Kindheit und die Sprachen danach werden auf andere, weniger leichte Weise erworben. 

Erstspracherwerb und Zweitspracherwerb, welcher sich nach der Pubertät vollzieht, werden somit als unterschiedliche Prozesse angesehen. Lenneberg schließt zwar nicht aus, dass nach der kritischen Periode Fremdsprachen gelernt werden könnten, aber der Erwerb von muttersprachlicher Kompetenz – insbesondere im Bereich der Aussprache – sei kaum zu erreichen. Zudem sei der Prozess des Spracherwerbs nach der Pubertät schwieriger. Während muttersprachliche Kompetenzen in Grammatik, Vokabular und Semantik noch als durchaus erreichbar erscheinen, wird im Bereich der Aussprache bezweifelt, dass eine Person, die die Zweitsprache erst nach der kritischen Periode erworben hat, ohne Akzent sprechen könnte. Aus diesem Grund sieht Scovel eine kritische Periode für die Aussprache, aber keineswegs für andere Aspekte des Zweitspracherwerbs. 

Der neueren Forschung zufolge scheint es Erwachsenen zwar schwieriger zu fallen, die Phonologie einer anderen Sprache zu erlernen, jedoch nicht unmöglich. Es ist zwar ungewöhnlich nach der Pubertät muttersprachliche Kompetenz in allen Bereichen der Zweitsprache zu erreichen, aber es besteht durchaus die Möglichkeit, zu einer perfekten Zweitsprachbeherrschung zu gelangen. Ein Zweitsprachler kann zwar zu muttersprachlicher Kompetenz kommen, aber „braucht für die gleiche Leistung deutlich mehr Ressourcen.“ Zudem entstand durch Versuche hinsichtlich der Grammatik die Vermutung, dass die grammatischen Verarbeitungsprozesse bei Zweitsprachlern nicht automatisch verlaufen, was eine Begründung dafür ist, dass das Lernen fremder Sprachen schwieriger wird. Auch auf dem Gebiet der Phonologie haben Untersuchungen von Neufeld ergeben, dass gut motivierte und/oder talentierte Erwachsene fremde Sprachen so perfekt lernen können, dass sie nicht mehr am Akzent von Muttersprachlern zu unterscheiden sind. Demnach trifft es also zu, dass der Zweitspracherwerb nach der Pubertät nicht so leicht ist wie jener in der Kindheit, aber entgegen der Vorstellung einer kritischen Periode ist es durchaus möglich, nach der Pubertät zu einer perfekten Sprachbeherrschung zu gelangen. 

Biologisch gesehen ist die Fähigkeit, akzentfrei zu sprechen, durchaus gegeben, wird jedoch selten genutzt, was auch Baetens Beardsmore aufzeigt: „Although it does seem true that the speaker who has begun learning a second language in adolescence often has greater difficulty in producing accent-free speech in that language, the ability to do so is not unknown and where this is not achieved it may be accounted for less by biologically determined factors than by the lack of desire to perfect the accent (and other linguistic features) beyond a self-evaluated level of adequate proficiency. Apparently the early bilingual can produce in two languages more easily without trace of interference from either but this need not necessarily be the case.” 

Es wird deutlich, dass die Hypothese von der kritischen Periode nicht unbedingt aufrechterhalten bleiben muss, da mittlerweile bewiesen ist, dass auch nach der Pubertät perfekte Zweitsprachbeherrschung möglich ist, dieser Prozess jedoch mit mehr Mühe verbunden ist. Daher sieht Baker in Hinsicht auf den Fremdsprachenerwerb keine kritische Periode, sondern stellt stattdessen die frühe Kindheit und Schulzeit als „vorteilhafte Phase“ heraus. Erfolgreiche erwachsene Lerner liefern den Beweis dafür, dass Fremdsprachen auch nach der Pubertät problemlos erworben werden können. Kinder lernen eine Zweitsprache nicht leichter, sondern anders als Erwachsene, „denn mit zunehmendem Alter und fortschreitender kognitiver Entwicklung wandeln sich Lern- und Kommunikationsstrategien, Interessen, Motive und Anpassungsbereitschaft.“ 

Entscheidend bei dem Zweitspracherwerb ist demnach nicht unbedingt das Alter, sondern neben den Umständen des Erwerbs einer zweiten Sprache auch Einstellungen und Lernmotivation. Der scheinbar schwierig werdende Zweitspracherwerb bezieht sich demnach nicht auf die Pubertät aufgrund des Alters, sondern aufgrund der Tatsache, dass in dieser Zeitspanne die Motivation und die Anpassungsfähigkeit nachlässt, während Kinder einer neuen Sprache offen und motiviert begegnen. Weder die Hypothese von einer kritischen Periode noch die Vorstellung eines optimalen biologisch festlegbaren Alters kann somit bestehen bleiben. Dennoch wird ein möglichst früher Beginn für das Erlernen einer zweiten Sprache befürwortet, nicht nur weil das Vorschulalter die wichtigste Alterspanne zur intellektuellen und sozial-emotionalen Förderung darstellt, sondern auch weil dadurch dem Kind mehr Zeit geboten wird und die Sprache so besser ausgebildet werden kann. Es gilt also: „Je früher, desto besser“.