Anwendungsfelder der Verkehrspsychologie ( Enzyklopädie der Psychologie : Themenbereich D : Ser. 6 Bd. 2)

von: Niels Birbaumer, Dieter Frey, Julius Kuhl, Hans-Peter Krüger (Hrsg.)

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2008

ISBN: 9783840915123 , 875 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 158,99 EUR

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Anwendungsfelder der Verkehrspsychologie ( Enzyklopädie der Psychologie : Themenbereich D : Ser. 6 Bd. 2)


 

9. Kapitel (S. 393-394)
Psychologische Unfallnachsorge
Wilfried Echterhoff

1 Einleitung
Durch Unfälle können daran beteiligte Menschen in psychische Ausnahmesituationen geraten. Sie können an die Grenzen ihres Daseins stoßen und in eindringlicher Weise Vergänglichkeit, Vernichtung, Angst, Einsamkeit und Fragen der Sinnhaftigkeit der Existenz erleben. In Grenzsituationen können sich gemäß der Existenzphilosophie von Jaspers (1973a, 1973b, 1973c, 1973d) Leiden, Kampf, Schuld und Tod offenbaren. Wenn Menschen den damit verbundenen fundamentalen existenziellen Anforderungen nicht gerecht werden können, sind pathologische Folgen möglich. Die Existenzphilosophie von Jaspers sieht diese Störung im Zusammenhang mit einem nicht vollzogenen Austausch mit der Welt und mit einem blockierten Bezug zu sich selbst. Mobilität und Verkehr stellen einen der wenigen Lebensbereiche des Menschen dar, in dem er unvorhergesehen und plötzlich durch hohe Energieeinwirkungen schwere Schäden erleiden kann, die die Existenz bedrohen. Hierdurch können sich unvermittelt Fragen aufdrängen, die Frankl (2002) aus Zwängen und aus elementaren Erfahrungen in Konzentrationslagern in die therapeutischen Ansätze seiner Logotherapie konvertiert. In den letzten Jahren wurden existenzielle Ansätze u. a. durch das Konzept der komplizierten Trauer (Znoj, 2004) wieder aufgegriffen. Durch die massive Einwirkung eines Extremereignisses kann der psychische Zustand eines Menschen so stark geschädigt werden, dass vorübergehende oder dauerhafte psychische Krankheiten entstehen können. Psychische Schädigungen nach Extremereignissen im Bereich Mobilität und Verkehr stellen fachlich keine Sonderform dar. Lediglich die Art und Weise der Entstehung von Extremereignissen und die der Organisationsmöglichkeiten nach Extremereignissen können spezifisch für den Bereich Mobilität und Verkehr sein. Krankheiten (z. B. Herzinfarkt während des Autofahrens) oder durch Fehlinterpretationen (z. B. Todesangst vor dem vermeintlichen Absturz des eigenen Flugzeugs) innerhalb eines Individuums (internal) ausgelöst werden und somit für den Betroffenen ein Extremerlebnis darstellen. Möglicherweise eintretende psychische Beschwerden nach Extremereignissen zeigen sich unter anderem in folgenden Äußerungen oder Zuständen: „Warum gerade ich?“, „Wie konnte das passieren?“, „Warum gerade an dieser Stelle?“, „Ich werde verrückt!“, „Immer diese Bilder!“, „Niemals werde ich damit fertig“, „Ich werde alles verlieren“. Hinzu kommen je nach Art des Unglücks und des kulturellen Hintergrunds Probleme, die z. B. durch die Verletzung der Ehre, des Schamgefühls und durch die Verursachung von Ekel und Schuld entstehen. Besonders schwierig wird die Lage von unfallbeteiligten Menschen, sofern sie eine schwerwiegende körperliche Verletzung erlitten haben und denen schwerwiegende privat- oder strafrechtliche Folgen drohen.

Eine historische Aufarbeitung von psychischen Beeinträchtigungen durch Extremereignisse findet sich bei Saigh (1995a), der u. a. über psychische Störungen (Schlafstörungen, massive Ängste, sich aufdrängende bildhafte Erinnerungen) nach einem Großbrand in London im Jahr 1666, nach Unfällen und von kriegsbedingten Psychotraumata (sie seien gelegentlich als Schreckneurose bezeichnet worden) berichtet. In seinem historisch angelegten Teil schreibt Saigh (1995a), dass seiner Ansicht nach bereits im letzten Jahrhundert Folgendes deutlich wurde: „Insgesamt gesehen ist unverkennbar, dass traumatisierte Menschen häufig unter weitreichenden und langanhaltenden emotionalen Problemen leiden“ (S. 11 ff.). Mit Beginn der Industrialisierung und der damit verbundenen Einführung von motorgetriebenen Straßenfahrzeugen und Großfahrzeugen verstärkte sich die Unfallproblematik in der Gesellschaft. Vor allem die Verbreitung des Eisenbahnsystems bereitete oft Sorgen (Echterhoff &, Spoerer, 1991, 11 ff.). Die derzeitige Situation beschreiben Maag, Schmitz und Fröschl (in diesem Band). Die erste fachliche Publikation über psychische Probleme nach einem Verkehrsunfall ist möglicherweise das Buch von Erichsen (1866), der über Erinnerungsverluste, Schlafprobleme und Albträume von Patienten berichtet. Vor allem die empirischen Forschungsarbeiten über Opfer in anderen Bereichen (z. B. Kriminalität, Kriege, Naturkatastrophen) und die Initiativen zur Krisenintervention lieferten gute Voraussetzungen für eine breite Umsetzung psychologischer Unfallnachsorge im Bereich Mobilität und Verkehr seit Mitte der 1990er Jahre in die Praxis.