Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie - Grundlagen, diagnostische Strategien, Entwicklungstherapien und Entwicklungsförderungen

von: Richard Michaelis, Gerhard W. Niemann

Georg Thieme Verlag KG, 2017

ISBN: 9783132408111 , 448 Seiten

5. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 144,99 EUR

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Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie - Grundlagen, diagnostische Strategien, Entwicklungstherapien und Entwicklungsförderungen


 

1 Grundlagen


1.1 Entwicklungsneurologie, Neuropädiatrie, Entwicklungspädiatrie


1.1.1 Entwicklungsneurologie


Im Zuge einer fortschreitenden Spezialisierung der Kinder- und Jugendmedizin während der letzten 40 Jahre entstand auch das Fachgebiet einer Entwicklungsneurologie. Die Aufgaben, die sich ihr stellten, ergaben sich aus den damaligen Notwendigkeiten ärztlicher Herausforderungen, die Entwicklungsbeurteilungen von früh geborenen Kindern, von Kindern mit prä-und perinatalen Entwicklungsrisiken und die Versorgung von Kindern mit angeborenen oder erworbenen Behinderungen. Die ersten Entwicklungsneurologen kamen daher zumeist aus der damaligen Neonatologie und aus der Pädiatrie des Säuglings und Kleinkinds. Die Gründung einer selbstständigen Gesellschaft erfolgte nicht, wohl aber – und immer wieder bis heute – das Arbeiten an dieser Thematik in zeitlich begrenzten, kleinen Arbeitsgruppen. Heute ist die Entwicklungsneurologie ein Teilgebiet der Neuropädiatrie, mit den Schwerpunkten Entwicklungsbeurteilung, frühe Diagnostik neurologischer Erkrankungen in den ersten Lebensjahren sowie ärztliche Versorgung und Betreuung fortschreitender oder bleibender neurologischer Störungen in den ersten 6 Lebensjahren. Mit der Gründung flächendeckender sozialpädiatrischer Zentren (SPZ) in den 1990er-Jahren ist auch die Sozialpädiatrie in ihrer klinischen Arbeit auf eine Entwicklungsneurologie angewiesen ▶ [59].

Entwicklungsneurologische Relevanz

Die zeitliche Begrenzung auf die ersten 6 Lebensjahre lässt sich folgendermaßen begründen:

In den ersten Lebensjahren ändern die zeitlich raschen Entwicklungsverläufe die Phänomenologie der normalen neurologischen Entwicklung, aber auch deren Pathologie. Normalität und Auffälligkeit müssen sicher bekannt sein, um verlässlich entscheiden zu können, ob Kinder dieses Alters sich unauffällig oder auffällig entwickeln und welche Konsequenzen aus den Befunden zu ziehen sind.

1.1.2 Neuropädiatrie


Die Neuropädiatrie, also eine Neurologie des Kindes- und Jugendalters, entstand als pädiatrisches Pendant zur Neurologie der Erwachsenen ebenfalls in der Zeit der o.g. Spezialisierung der Pädiatrie. 1974 erfolgte die Gründung der deutschsprachigen Gesellschaft für Neuropädiatrie. Die erste Generation der Ärzte, die neuropädiatrisch arbeitete, kam meist aus der Epileptologie oder der Erwachsenenneurologie. Nicht jeder Neuropädiater ist allerdings eo ipso auch ein guter Entwicklungsneurologe, was umgekehrt ebenso für Entwicklungsneurologen gilt. Entscheidend für die Ausbildung von Kinderärzten zu Neuropädiater – mit oder ohne Entwicklungsneurologie – sind bis heute die Institutionen (meist Kinderkrankenhäuser), Zentren an denen eine Ausbildung absolviert werden kann, je nach den Schwerpunkten, über die eine solche Institution verfügt.

Es existieren genügend Angebote, berufsbegleitend oder durch zusätzliche Fortbildungskurse, um die Ausbildung in der Kinderneurologie mit ihren verschiedenen Schwerpunkten zu vervollständigen.

1.1.3 Entwicklungspädiatrie


Vom Schweizer Kinderarzt Largo ▶ [31], ▶ [32] wurde ein neuer Schwerpunkt in den Berufskatalog von Kinderärzten in der Praxis eingeführt: Die Entwicklungspädiatrie. In einem prinzipiellen Gegensatz zur Organmedizin, ist nach Largo die Entwicklungsbeurteilung das „Kerngeschäft“ der Pädiatrie in der Praxis; sie könne von keiner anderen ärztlichen Institution übernommen werden. Dieses Kerngeschäft zu vernachlässigen, gefährde die Existenz der Pädiatrie. Kinderärzte seien durch eine Zusatzausbildung (die in der Schweiz möglich ist) befähigt, die Gesamtentwicklung eines individuellen Kindes zu beurteilen. Damit seien sie auch zu fachlicher Kooperation mit anderen medizinischen, therapeutischen oder pädagogischen Diensten qualifiziert.

Eine Entwicklungspädiatrie setzt u.a. Kenntnisse über Störungen des Bindungs- und des Kommunikationsverhaltens, Wissen über Störungen der Nahrungsaufnahme, der Verhaltensregulation, über frühe Lernstörungen und über die frühen Symptome relevanter kinder- und jugendpsychiatrischer Erkrankungen voraus. Dazu gehört aber auch das Wissen über die gefährdete soziale Situation eines Kindes, über die Verhaltensstörungen, die daraus erwachsen können und die Beratung der Eltern bei Verhaltensstörungen ihres Kindes. Entwicklungspädiatrisch ausgebildete Ärzte haben auch gelernt, die körperliche Entwicklung zu beurteilen, ebenso wie die Entwicklung der Körper- und Hand-Fingermotorik, die Sprach- und Sprechentwicklung, die kognitive Entwicklung, die soziale und emotionale Kompetenz und die Entwicklung der Selbstständigkeit. Unerlässlich sind dazu Kenntnisse über die Varianten der normalen individuellen Entwicklung, deren Grenzwerte und Pathologie, und schließlich auch Kenntnisse über transitorische Entwicklungskomponenten (TEK), die oft genug dazu verführen, sie allzu schnell als Pathologie zu deuten, mit allen daraus folgenden misslichen Konsequenzen für Kind und Eltern. Viele der von Largo geforderten entwicklungspädiatrischen Bedingungen sind schon immer in der Entwicklungsneurologie selbstverständlich gewesen, nicht aber für die Arbeit der Ärzte in der kinderärztlichen Praxis. Ob es auch in Deutschland dazu kommen wird, eine Zusatzausbildung für Entwicklungspädiatrie erwerben zu können, ist derzeit offen.

1.1.4 Entwicklungsneurologie


Nach der Darstellung der Aufgaben der Entwicklungsneurologie, der Neuropädiatrie und der Entwicklungspädiatrie, würde es nahe liegen, die Entwicklungsneurologie als Teil der Entwicklungspädiatrie zu sehen. Dann müsste dieses Buch den Titel tragen: „Entwicklungspädiatrie und Neuropädiatrie“. Bei der Diskussion ob so verfahren werden solle, in kleineren Kreisen aber auch mit einzelnen Vertreterinnen und Vertretern der Entwicklungsneurologie, Neuropädiatrie und Entwicklungspädiatrie trafen wir allerdings auf ganz unerwartete Widersprüche, wobei 2 ernst zu nehmende Begründungen immer wieder auffielen:

  • Der Ausdruck Entwicklungspädiatrie sei eigentlich seiner Bedeutung nach, nur ein Synonym für Pädiatrie, die es bekanntlich nahezu ausschließlich mit Entwicklung zu tun habe: Entwicklungsstörungen wie der Lungen, des Herzens, des Gastrointestinaltraktes beispielsweise. Jede Pädiatrie sei gleichzeitig auch Entwicklungspädiatrie.

  • Trotz der Betonung der Neurologie, sei von Anfang an ein ganzheitlicher Ansatz für die Entwicklungsneurologie selbstverständlich gewesen und sei es auch bis heute. Bei keinem Kind habe man sich je nur und ausschließlich um die Neurologie gekümmert. Immer habe das gesamte Kind in der Frühphase seiner Entwicklung und seine Einschränkungen im Fokus der Entwicklungsneurologie gestanden und das möge und sollte auch weiterhin so bleiben.

Wir waren von den geäußerten Meinungen zu dem Begriff Entwicklungsneurologie überrascht und beschlossen, für die fünfte Auflage des Buches den Titel beizubehalten und weiterhin abzuwarten, ob die Entwicklungsneurologie in der Entwicklungspädiatrie aufgeht oder ob sie für die Altersgruppe von 0 bis 6 Jahren existent bleiben wird.

Entwicklungsneurologische Relevanz

Entwicklungsneurologie setzt die Kenntnis der frühen, sich rasch ändernden Neurologie und deren Störungen voraus ▶ [42], plus Grundkenntnisse über die motorische, sprachliche, soziale und emotionale Entwicklung und deren Störungen sowie über Gefährdungspotenziale bei Kindern im Alter von 0–6 Jahren, also bis zum Ende des Vorschulalters. Neuropädiatrie und Entwicklungspädiatrie sollten von diesen Kenntnissen profitieren und sie in der eigenen Arbeit umsetzen können.

1.2 Reifung und Entwicklung


1.2.1 Eine inzwischen 30-jährige Diskussion


Vor nun schon etwa 30 Jahren, gaben die Meinungsunterschiede über die Definitionen von Reifung und Entwicklung Anlass zu grundsätzlichen und kontroversen Diskussionen ▶ [74], ▶ [46], ▶ [49], ▶ [50], ▶ [58]. Für fast ein halbes Jahrhundert galt das Paradigma von...