Die Europäische Integration als Elitenprozess - Das Ende eines Traums?

von: Max Haller

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2009

ISBN: 9783531914565 , 536 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,96 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Europäische Integration als Elitenprozess - Das Ende eines Traums?


 

6 Eine Union oder viele? Das Bild der EU in den verschiedenen Mitgliedstaaten (S. 283-284)

Einleitung

In Kapitel 1 wurde gezeigt, dass zwischen Bürgern und Eliten im Hinblick auf die allgemeine Zustimmung zum Prozess der Integration eine erhebliche Kluft existiert. Es wurde auch gezeigt, dass das Bild der EU in den verschiedenen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ist. In diesem Kapitel sollen die Wahrnehmungen und Bilder, Befürchtungen und Erwartungen in Bezug auf die europäische Integration in den verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU genauer untersucht werden.

Wir werden uns auf die Wahrnehmungen und Erwartungen der Bürger konzentrieren, aber auch die Ziele und Strategien der Eliten sowie den historischen Hintergrund und die strukturelle Situation der verschiedenen Länder einbeziehen. Indem wir diese unterschiedlichen Perspektiven untersuchen, können wir auch einen Beitrag zur Frage der Finalität der Integration leisten. Die These lautet, dass die Fortsetzung des Integrationsprozesses auf lange Sicht nur erfolgreich sein kann, wenn die Mehrheit der Bürger in allen Ländern der allgemeinen Zielsetzung der Integration zustimmt und wenn ihre Erwartungen mit denen der Eliten in Übereinstimmung gebracht werden können.

Solange es in diesen Aspekten signifikante Diskrepanzen gibt, wird die Integration immer wieder Rückschläge erfahren. Im ersten Abschnitt des Kapitels werden Überlegungen angestellt über die allgemeinen Bedingungen, welche die Integration oder Desintegration einer Gesellschaft fördern sowie über die Notwendigkeit jeder Gesellschaft – auch der der Europäischen Union – eine klare Identität zu entwickeln. Im zweiten und dritten Abschnitt wird eine Typologie der Beziehung der verschiedenen Länder zum Prozess der Integration ausgearbeitet, für die Wissen und Daten aus sehr viel verschiedenen Quellen herangezogen werden.

Wir werden sieben unterschiedliche Haltungen zur EU unterscheiden. Im vierten Abschnitt diskutieren wir die Frage, ob die EU tatsächlich als eine »Wertegemeinschaft«, basierend auf dem Christentum oder auf einem spezifisch »europäischen Lebensstil«, betrachtet werden kann. Die Antwort auf diese Frage ist eher negativ. All diese Ergebnisse machen deutlich, wie notwendig es ist eine gemeinsame Vision für die Integration zu entwickeln, die von allen Bürgern und sozialen Gruppen und in allen Mitgliedsstaaten der EU unterstützt werden kann.

6.1 Die Integration und Identität von Gesellschaften und die EU

Die Integration der Gesellschaft – »ein zentrales, aber auch vernachlässigtes Problem sozialwissenschaftlicher Analyse«

Ein grundlegendes Problem jeder Gesellschaft besteht darin, wie sie ein angemessenes Niveau der Integration erreichen kann. Dieses Problem ist in den letzten Jahrzehnten aus der Agenda der Sozialwissenschaften und auch der Soziologie verschwunden – im Unterschied zur Tatsache, dass es ein zentrales Thema unter den Herrschenden ist, die »stets ein praktisches Interesse an der Integration ihrer Gesellschaften haben: Sie haben ohne Ausnahme danach gestrebt, ein höheres Niveau der Integration zu erreichen, als es ihre Gesellschaften tatsächlich aufgewiesen haben …« (Shils 1982: 52).

Personen und Gruppen, die ihre Position aufrechterhalten wollen, neigen viel eher zur Auffassung, dass eine »gute Gesellschaft« eine solche ist, in der es keine Konflikte gibt. Was ist eine Gesellschaft? Man kann eine Gesellschaft bezeichnen als eine (relativ) große Anzahl von Menschen, die auf einem bestimmten Territorium zusammenleben, durch dichte Kommunikationsmuster und eine Vielfalt enger Beziehungen verbunden sind, und die auch durch soziale und politische Institutionen zusammengehalten werden.

Der Nationalstaat wird meist als paradigmatische Form einer Gesellschaft angesehen. In der Phase der europäischen Integration und Globalisierung wird er jedoch immer enger mit anderen Staaten und mit der Welt insgesamt verflochten. Er verliert daher einen Teil seiner Autonomie (Luhmann 1975, Beck/Grande 2004). Trotzdem bleibt er weiterhin die wichtigste Einheit der sozialen Integration (Weiss 1998, Haller/Hadler 2004/05).