Herzenssache - Mein Leben mit den Walen und Delfinen in der Straße von Gibraltar

von: Katharina Heyer, Michèle Sauvain

Wörterseh Verlag, 2016

ISBN: 9783037636084 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Herzenssache - Mein Leben mit den Walen und Delfinen in der Straße von Gibraltar


 

 

Seltsame Begegnungen


Der Himmel war grau, und es regnete heftig, als Rita und ich mit dem Auto durch das wunderschöne Naturschutzgebiet am untersten Zipfel Spaniens fuhren. Von den grünen Hügeln sah ich erstmals auf die Straße von Gibraltar hinunter. Sprachlos saß ich neben meiner Freundin im Auto und dachte: Was für ein wunderbarer Ort. Direkt unter uns lag das Küstenstädtchen Tarifa mit der vorgelagerten kleinen Insel, und am gegenüberliegenden Ufer zeichneten sich hinter dem Regenvorhang die Hügel Marokkos ab. Wie schön musste es hier erst sein, wenn die Sonne schien.

Es war der 28. Dezember 1997. Ich war über die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr zu Rita und ihrem Mann Peter geflüchtet, weil ich hoffte, hier ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Damals jettete ich noch als Businessfrau und erfolgreiche Designerin von Handtaschen nonstop auf dem ganzen Globus herum. Rita und Peter hatten ein halbes Jahr zuvor ihr altes Leben in der Schweiz hinter sich gelassen und in dem Dörfchen Gaucín, ein paar Kilometer von Tarifa entfernt, ein Stück Land mitten in einer großen Orangenplantage gekauft. Dort wollten sie sich ihren alten Traum verwirklichen, eine Finca bauen und ein Bed & Breakfast eröffnen. Bis es so weit war, wohnten sie in einem Häuschen ganz in der Nähe. Ich bewunderte ihren Mut, aber Rita fehlte mir in meinem Alltag sehr. Ich hatte mich so daran gewöhnt, mit ihr meine Sorgen und Nöte zu teilen. Als sie noch in der Schweiz lebte, trafen wir uns oft spontan auf einen Tee.

Ich war damals fünfundfünfzig Jahre alt und hatte keinen Plan, wie mein Leben weitergehen sollte. Ich wusste nur, dass ich nicht so weitermachen wollte. Obwohl ich ein spannendes Leben führte, füllte es mich emotional nicht mehr aus. Ich wollte gesellschaftlich etwas bewegen – aber was?

Ara, mein Freund und Lebensberater, war es, der mich dazu ermuntert hatte, über die Festtage zu Rita und Peter zu fahren. Dabei hatte er beiläufig bemerkt, ich könne mir bei dieser Gelegenheit ja mal Tarifa anschauen. »Dort soll es Delfine und sogar Orcas geben«, hatte er gesagt. Ara wusste, dass ich leidenschaftlich gern tauchte. Delfine hatte ich auf meinen Tauchgängen schon einige gesehen, sie faszinierten mich immer wieder: Einem Delfin in die Augen zu schauen, ist etwas ganz Besonderes, etwas Magisches, man hat sofort den Eindruck, dass diese Wesen extrem sensibel und intelligent sein müssen. Einem Orca allerdings war ich noch nie begegnet, für dieses Erlebnis würde ich viel geben. Allerdings war jetzt Weihnachten und nicht die ideale Zeit für Tauchgänge im Mittelmeer. Warum also hatte Ara diese Bemerkung gemacht? Schon oft hatte er mich auf etwas hingewiesen, mit dem ich erst viel später etwas anfangen konnte. Obwohl wir uns erst seit fünf Jahren kannten, konnte er mich gut »lesen«. Vielleicht würde es mir ja tatsächlich guttun, nach Spanien zu fahren und für einmal gar nichts zu tun. Zudem war es dort wärmer als in Zürich. Ich mochte die Stadt nicht während der Weihnachtstage, sie machte mich depressiv. Auch deshalb hatte ich mich entschieden, zu Rita zu fliegen. Mit ein bisschen Glück konnte ich ja vielleicht tatsächlich meinen ersten Orca sehen.

Aber nun dieser Regen … Rita und ich diskutierten schon darüber, umzukehren und bei besserem Wetter wiederzukommen, da bildete sich am wolkenverhangenen dunkelgrauen Himmel direkt über der kleinen Insel plötzlich eine helle Wolke. Ich traute meinen Augen nicht. Wir schauten uns an.

»Rita, siehst du, was ich sehe?«, fragte ich sie ungläubig.

Sie nickte wortlos, doch ich insistierte: »Was genau siehst du?«

»Einen großen springenden Delfin.«

Die Wolke hatte tatsächlich die Form eines großen springenden Delfins! Ich konnte es kaum fassen und wurde ganz aufgeregt. Der Hinweis von Ara, die Wolke … Das passte doch überhaupt nicht zu mir: Ich, eine Realistin, die jederzeit fest mit beiden Beinen auf dem Boden steht, sah eine Delfinwolke, die mir wie im Märchen einen Weg zu zeigen schien. An ein Umkehren war nicht mehr zu denken. Wir fuhren die enge Straße hinunter zum Hafen und stellten das Auto auf dem großen Parkplatz vor einer Palmenallee ab. Hier irgendwo musste das Tourist-Office sein. Wir bogen in eine kleine Straße ein, und nach ein paar Metern standen wir vor dem Eingang. Ich wollte hinaus aufs Meer, um zu schauen, ob es hier wirklich Delfine und Orcas gab. Ich musste der Sache auf den Grund gehen. Bestimmt würden wir hier im Tourist-Office erfahren, ob und wie wir in dieser Jahreszeit in die Straße von Gibraltar kamen.

Beim Eintreten fiel mein Blick sofort auf eine fleckige, zerknitterte Anzeige auf dem Infobrett an der Wand. Darauf war das Bild eines springenden Delfins zu sehen, dazu die Aufschrift »Gesucht, tot oder lebendig!«. Ich wurde nicht schlau aus der Anzeige. Wer suchte denn bloß tote Delfine? Ganz unten am Rand stand kaum lesbar eine Madrider Telefonnummer. Ich fragte die junge Frau am Desk, ob es vielleicht ein Fischerboot gab, das uns mit aufs Meer nehmen würde. Sie schaute mich verständnislos an und zog die Augenbrauen hoch.

»Kein Fischer nimmt Touristen mit aufs Meer.« Als sie mein enttäuschtes Gesicht sah, wurde sie ein bisschen freundlicher: »Was wollen Sie denn da draußen?«

»Delfine sehen«, sagte ich.

Die Frau lachte, und ich kam mir ein bisschen dämlich vor. »Delfine? Ich wüsste nicht, dass es hier überhaupt welche gibt«, erwiderte sie, »aber der da glaubt das ja auch.« Sie zeigte auf das Infobrett am Eingang.

Aus einem unerklärlichen Impuls heraus zückte ich mein Handy und wählte die Telefonnummer, die auf der Anzeige stand. Eine schnarrende Männerstimme meldete sich etwas unwirsch auf Spanisch, alles, was ich verstand, war »Diego«.

Ich antwortete auf Englisch: »Hello Diego, hier ist Katharina. Ich habe deine Anzeige gesehen und möchte dich fragen, ob du weißt, wo meine Freundin und ich hier Delfine sehen können?«

Diegos Stimme wurde sofort freundlicher und geschäftsmäßiger. »O, hello, Katharina. Ja, das weiß ich, und ich könnte euch am nächsten Wochenende noch Plätze auf meinem Boot anbieten.«

»Aber wir würden gern jetzt gleich aufs Meer. Kennst du vielleicht einen Fischer, der heute noch Zeit hätte?«, drängte ich, denn bis zum Wochenende wollte ich nicht warten.

Am Telefon wurde es still, dann fragte Diego: »Warum ist es so wichtig für dich, jetzt gleich rauszufahren? Was hast du mit Delfinen zu tun?«

»Eigentlich nichts … sie haben mich nur irgendwie schon immer fasziniert … und hm, vielleicht mache ich mal was mit Delfinen …« Ich hörte mir selber zu und dachte, dass dieses »Vielleicht mache ich mal was mit Delfinen« ziemlich naiv und bescheuert klingen musste.

Diego aber sagte nur: »Bei diesem Wetter fährt kein Fischer mit dir raus. Kommt erst mal nach Tarifa, dann schauen wir weiter.«

»Wir sind doch schon in Tarifa! Wir stehen im Tourist-Office.«

Da lachte er. »Ach so, dann geht jetzt raus und fünfzig Meter die Palmenallee runter, dort ist das Café Continental. Wartet dort auf mich. Ich trage einen Schnauz, habe einen Hut auf und komme mit einem großen Hund. Er heißt Zacharias.« Dann hängte er auf.

Kurz darauf saßen Rita und ich im Café und warteten. »Warum willst du denn unbedingt heute noch raus?«, fragte sie mich.

Ich schaute sie nachdenklich an. »Du kennst mich doch, ich will jetzt einfach wissen, ob es hier Meeressäuger gibt.«

Rita schmunzelte, sie kannte mich und wusste, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, war ich nicht mehr davon abzubringen. Als Diego eine halbe Stunde später zur Tür hereinkam, erkannte ich ihn sofort. Seine Erscheinung war wenig vertrauenerweckend. Er trug ein schmuddeliges T-Shirt und dreckige Jeans, der Schnauz wuchs in alle Richtungen, und auf Wangen und Kinn machte sich ein Fünftagebart breit. Seinen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen, sodass seine Augen kaum zu sehen waren. Als er näher kam, fielen mir seine gelben Zähne und die schmutzigen Fingernägel auf und der Geruch seines Hundes. Eine sehr groß geratene, undefinierbare Straßenkötermischung. Zacharias stank zum Himmel. Er war noch ungepflegter als sein Meister. Normalerweise hätte ich sofort einen Rückzieher gemacht. Aber heute war nicht »normalerweise«. Ich blieb.

Da es immer noch regnete, hatten Rita und ich genug Zeit, uns Diegos Geschichte anzuhören. Ich schätzte ihn auf etwa vierzig, und trotz seines nicht sehr anziehenden Äußeren war ich irgendwie fasziniert von ihm. Rita weniger, sie schaute ihn von der Seite immer wieder skeptisch an. Er stamme eigentlich aus Patagonien, erzählte er uns, und habe bis vor vier Jahren mit seiner spanischen Frau und seinen Kindern in Argentinien gelebt. Nach der Scheidung sei sie mit den Kindern nach Madrid zurückgekehrt. Und um näher bei ihnen zu sein, sei auch er dorthin gezogen. Nun aber sei er hierhergekommen, denn er wolle in Tarifa eine Whalewatching-Station aufbauen. Er sei Orca-Forscher und überzeugt davon, dass es hier Meeressäuger gebe. In Amerika sei Whalewatching sehr beliebt, in Europa jedoch noch nicht sehr verbreitet. Ich fand seine Ausführungen interessant, und wir unterhielten uns sehr angeregt. Er erzählte uns von der argentinischen Halbinsel Valdés, die bekannt ist für ihre Artenvielfalt. Dort tummeln sich Seelöwen und See-Elefanten, Delfine und andere Wale. Und er erzählte uns vom »absichtlichen Stranden«, einer Jagdtechnik der Orcas, die die Robben vor dieser Insel äußerst intelligent Richtung Strand treiben, um sie dann in der Brandung...