Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaften - Wegweiser und Meilensteine eines Dialogs

von: Rolf Haubl, Johann August Schülein, Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne Leuzinger-Bohleber, Wolfgang Mertens

Kohlhammer Verlag, 2016

ISBN: 9783170317697 , 242 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

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Preis: 27,99 EUR

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Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaften - Wegweiser und Meilensteine eines Dialogs


 

 

3          Die gesellschaftswissenschaftliche Aneignung der Psychoanalyse in sechzehn Autorenporträts


 

 

Im Folgenden wird – in alphabetischer Folge – eine Reihe von prominenten gesellschaftswissenschaftlichen Autoren porträtiert, die auf die eine oder andere Weise ihre eigenen Denkwerkzeuge schärften, indem sie sich mehr oder weniger explizit an Vorstellungen von Freud und der Psychoanalyse abgearbeitet haben.

Lernziele


Die Porträts sollen

•  einen Überblick über prominente und wichtige Versuche vermitteln, psychoanalytische Konzepte in gesellschaftswissenschaftliche Theorien zu integrieren, um deren Erklärungskraft zu verbessern;

•  Denkweise und Theoriesprache der porträtierten Autoren vorstellen und zugänglich machen, weshalb wir sie ausführlich zu Wort kommen lassen;

•  die Bedeutung hervorheben, den die porträtierten Autoren der gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit für die gesellschaftliche Integration zuschreiben;

•  das spannungsreiche Verhältnis von gesellschaftswissenschaftlichen Perspektiven (die vom Vorrang des Sozialen ausgehen) und der psychoanalytischen Betonung des Biologischen ausloten;

•  das nicht minder spannungsreiche Verhältnis von Historizität und anthropologischer Universalität in den Gesellschaftswissenschaften und der Psychoanalyse verdeutlichen;

•  den Anspruch, die Psychoanalyse für eine emanzipatorische Gesellschaftspolitik zu nutzen, kritisch reflektieren;

•  die Notwendigkeit einer interdisziplinären Kooperation zwischen der Psychoanalyse und den Gesellschaftswissenschaften begründen, aber auch auf die Schwierigkeiten von Interdisziplinarität aufmerksam machen.

3.1       Theodor W. Adorno: Psychoanalyse als Kritik – Kritik der Psychoanalyse


Adorno (1903–1969) war ein deutscher Philosoph, Soziologe und Musikwissenschaftler. Neben Max Horkheimer zählt er zu den Begründern der »Kritischen Theorie« bzw. »Frankfurter Schule«. Ab 1931 lehrte er an der Universität in Frankfurt am Main, bis er 1933 von den Nationalsozialisten ein Lehrverbot erhielt und in die USA emigrierte, da er als Jude mit Verfolgung rechnen musste. In den USA wurde er am ebenfalls exilierten Institut für Sozialforschung angestellt, um empirische Untersuchungen durchzuführen, die über den »autoritären Charakter« als eine der psychischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus Aufschluss geben sollten.

1947 entstand die Dialektik der Aufklärung, die Adorno zusammen mit Horkheimer schrieb. Neben den Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1944–1947) gehört das Buch zu seinen breitenwirksamsten Schriften. Nach seiner Rückkehr aus den USA in das Nachkriegsdeutschland wurde Adorno einer der Direktoren des ebenfalls zurückgekehrten Instituts für Sozialforschung und machte sich bald als einer der wortgewaltigsten Kapitalismuskritiker des deutschen »Wirtschaftswunders« über die akademische Welt hinaus einen Namen. So setzte er sich unermüdlich in Interviews und öffentlichen Gesprächen für eine Erziehung zur Mündigkeit (1959–1969) ein. Als Intellektueller gehörte er zu den geistigen Vätern der Studentenbewegung, deren Radikalisierung ihn aber mehr und mehr erschreckte.

Adorno war sein Leben lang an der Genese des »autoritären Charakters« interessiert, zu dessen Leitsymptomen der Antisemitismus gehört. Dabei hat er erkannt, dass es wenig nützt, bei der Erfassung von »Oberflächenmeinungen« stehen zu bleiben. Denn diese entpuppen sich bei genauerer Analyse als Fassaden (Adorno, 1950, S. 15 f.). Um hinter diese Fassaden blicken zu können, bedarf es einer Methodologie mit größerer Tiefenschärfe. Und die hat Adorno in »intensiven klinischen Untersuchungen« gefunden, wie sie in der Psychoanalyse praktiziert werden. Mit ihrer Hilfe suchte er »die ideologischen Trends bloßzulegen, die nur in indirekten Manifestationen an die Oberfläche gelangen, und die im Unbewussten wirkenden Charakterkräfte ans Licht zu bringen« (ebd.).

Mit diesem Blick ausgestattet, nimmt Adorno auch die deutsche Nachkriegsgesellschaft unter die Lupe. Was er dabei als Demokratisierung entdeckt, stellt er unter Verdacht, eine ebensolche Fassade zu sein: eine Schönwetterdemokratie, die vergessen machen soll, dass das nationalsozialistische Deutschland millionenfach schuldig geworden ist.

Schuld und Abwehr (Adorno, 1955a) wird so zu einem Deutungsmuster, mit dem Adorno die Nachkriegszeit begreift: Schuldig geworden, wehren die Deutschen angemessene Schuld- und Schamgefühleab, indem sie sich zum Beispiel selbst als ohnmächtige Opfer der nationalsozialistischen Führungsriege, allen voran Hitler, darstellen.

Auch wenn der Typus des autoritären Charakters nicht mit der, zumal nur halbherzig betriebenen, Entnazifizierung verschwindet, kommt es doch zu einer Ausdifferenzierung der Sozialcharaktere. So identifiziert Adorno einen »manipulativen Typus«, der den autoritären zunehmend ablöst. Für diesen Typus gilt: »Die Hauptsache ist, dass ›etwas getan‹ wird, Nebensache aber, was getan wird.« (Adorno, 1950, S. 335 ff.) In ihm manifestiert sich ein entmoralisiertes Weltbild, das sich nur für die instrumentellen Seiten der Lebensführung, kollektiv wie individuell, interessiert und diese als neutrale Sachzwänge ausgibt. Unterirdisch setzt sich dabei allerdings nicht selten jene menschenverachtende Haltung eines Adolf Eichmann fort, der den Holocaust als rein logistisches Problem behandelt hat.

Um einen Rückfall in jede Art von Barbarei zu verhindern, bedarf es der Entwicklung demokratiefähiger Staatsbürger: Adorno nennt den entsprechenden Typus »genuin liberal« (ebd.). Ob dieser sich in hinreichender Häufigkeit durchsetzt, ist nicht ausgemacht: Adorno jedenfalls bleibt pessimistisch, zumindest skeptisch. Seine Skepsis lässt ihn auch dem Individualismus misstrauen, den die moderne Gesellschaft preist. Denn Adorno sieht ihn als Massenindividualismus, der die Befreiung der Individualität, die er verspricht, nicht hält. Was sich Individualität nennt, ist für ihn nur »Karikatur und Fratze« (Adorno, 1955a, S. 55). Und schärfer noch: »Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen« (Adorno, 1951, S. 55). Denn in der bürgerlichen Gesellschaft sagen sie Ich zu ihrer Entfremdung, die ihnen als Entwicklung einer »gut integrierten« Persönlichkeit verklärt wird. Denn faktisch, so Adorno (1955a, S. 65 f.), ist es die Unterwerfung unter einen gesellschaftlichen Anpassungszwang, der den Gesellschaftsmitgliedern »eine gute Balance der Kräfte zumutet, die in der bestehenden Gesellschaft nicht besteht«, mithin ihnen abverlangt, gesellschaftliche Widersprüche individuell auszugleichen, was dann aber zu einer »falschen Versöhnung mit der unversöhnten Welt« führt.

Auch wenn sich Adorno methodisch und theoretisch immer wieder auf die Psychoanalyse bezieht, um die Erklärungskraft seiner eigenen Analysen zu steigern, so bleibt er doch insgesamt gesehen vor allem ihrer therapeutischen Praxis gegenüber letztlich ambivalent. Es finden sich nicht wenige Passagen in seinen Schriften, in denen er drastische Urteile über sie fällt. So ordnet er sie in den von ihm diagnostizierten allumfassenden Anpassungszwang ein:

»[Die Psychoanalyse] […] trainiert die Menschen, die sie ermutigt, sich zu ihrem Trieb zu bekennen, als nützliche Mitglieder des destruktiven Ganzen. […] Noch die gelungene Kur trägt das Stigma des Beschädigten […] Indem der Geheilte dem irren Ganzen sich anähnelt, wird er erst recht krank, ohne dass doch der, dem die Heilung misslingt, darum gesünder wäre.« (ebd., S. 85)

Dem entsprechend verwirft Adorno die Therapieziele der Psychoanalyse, vor allem das Ziel, die Genussfähigkeit des Patienten (wieder) herzustellen. Denn für ihn führt »ein gerader Weg vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, dass jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht. Das ist das Schema der ungestörten Genussfähigkeit« (Adorno, 1951, S. 70).

Damit wird nun aber die »Kraft durch Freude«-Bewegung, mit denen die Nationalsozialisten von ihren Gräueln abzulenken suchten, mit dem Therapieziel...