ADHS und Schule - Grundlagen, Unterrichtsgestaltung, Kooperation und Intervention

von: Katja Mackowiak, Satyam A. Schramm, Norbert Grewe, Herbert Scheithauer, Wilfried Schubarth

Kohlhammer Verlag, 2016

ISBN: 9783170299962 , 194 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 24,99 EUR

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ADHS und Schule - Grundlagen, Unterrichtsgestaltung, Kooperation und Intervention


 

 

 

 

 

 

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Diagnostik von ADHS


Satyam Antonio Schramm


 

Nahezu alle Kinder und Jugendlichen zeigen gelegentlich Verhaltensweisen wie Unruhe, Impulsivität oder Unaufmerksamkeit. Bei einem Kind oder einer/m Jugendlichen mit ADHS unterscheidet sich jedoch das Auftreten dieser Kernsymptome vor allem in der Intensität und dem Ausmaß dieser Auffälligkeiten. Es handelt sich bei ihnen um ein andauerndes Muster von Verhaltensweisen aus diesen drei Bereichen, welches dem Entwicklungsalter nicht angemessen ist und bereits früh in der Entwicklung aufgetreten sein muss (Lauth & Naumann, 2009).

Von sicheren Methoden und Möglichkeiten, die eine Diagnose ADHS zulassen und diese absichern, kann bisher nicht die Rede sein. Dies wird in absehbarer Zeit auch nicht erreichbar sein, da sich komplexe Verhaltensmuster und Hirnfunktionen simplen Testverfahren entziehen. Für die Diagnosestellung einer ADHS gibt es somit keine eindeutige Blut- oder Laboruntersuchung und auch keinen (neuro-)psychologischen Test, mit dem sie einfach zu stellen oder auszuschließen wäre (Petermann & Toussaint, 2009; Imhof, Skrodzki & Urzinger, 2011).

Eine ADHS wird über die Symptome und die zugeordneten Verhaltenskriterien ( Kap. 1 zur Klassifikation) diagnostiziert. Das Zutreffen der Verhaltenskriterien wird von Experten (meist Ärztin/Arzt oder Psychotherapeut/in) eingeschätzt. Je nach Professionalität des Diagnostizierenden werden dazu Methoden der

•   Exploration/Befragung (z. B. des Kindes/Jugendlichen, der Eltern, Lehrer/innen/Erzieher/innen und Gleichaltrigen),

•  der Beobachtung in verschiedenen Kontexten (Schule, Zuhause, diagnostische Situation etc.) und

•  ergänzend testpsychologische Untersuchungen mit einbezogen.

Dennoch bleibt die Diagnose ADHS eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose (Weisshaupt & Jokeit, 2006), da sich die Ausprägung und der Schweregrad der Verhaltensweisen auf einem Kontinuum bewegen. Dies geht mit entsprechender Gefahr der Fehler während des diagnostischen Prozesses, insbesondere der Überdiagnostizierung, aber auch dem »Übersehen« einer ADHS einher (Bruchmüller & Schneider, 2012; Schulte-Körne, 2008).

Umso wichtiger ist es, Fehler bei der Diagnosestellung zu vermeiden und in der Folge die für das Kind/den Jugendlichen passende Intervention bzw. Förderung einzuleiten. Dazu muss sichergestellt werden, dass die diagnostischen Kriterien tatsächlich zutreffen. Der Lehrperson kommt während des diagnostischen Prozesses eine entscheidende Rolle zu, wenn es darum geht, mehrperspektivische Informationen zu den Verhaltensauffälligkeiten beizutragen. Ein professioneller Diagnostizierender wird in der Regel nicht auf die Urteile von Eltern und Lehrer/innen verzichten.

Daneben sind es auch sehr häufig Lehrer/innen, denen die ADHS-spezifischen Verhaltensweisen eines Kindes im Zusammenhang mit Lern- und Leistungssituationen erstmals auffallen. In Zusammenarbeit mit den Eltern den diagnostischen Prozess überhaupt erst anzustoßen, könnte in der Folge die Verschärfung der schulischen Problemsituation für alle Beteiligten verhindern ( Kap. 6).

2.1        Der diagnostische Prozess


Um abzuklären, ob eine ADHS vorliegt oder nicht, werden nach den derzeit gültigen Leitlinien zur Diagnostik (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al., 2007) im Zuge einer störungsspezifischen Diagnostik die folgenden Schritte gefordert:

•  Störungsspezifische Exploration von Eltern und Kind/Jugendlichem sowie zusätzlich Informationen aus der Schule und ergänzend eine Verhaltensbeobachtung während der diagnostischen Situation,

•  Erfassung der Entwicklungsgeschichte des Kindes/Jugendlichen,

•  Erfassung störungsrelevanter psychosozialer Rahmenbedingungen,

•  umfassende Kontrolle komorbider Störungen.

Die störungsspezifische Exploration zielt auf die Abklärung der diagnostischen Kriterien ( Kap. 1). Neben Gesprächen mit den Eltern und dem Kind/Jugendlichen sowie der Verhaltensbeobachtung während der diagnostischen Situation kommen dabei meist Einschätzbögen zum Einsatz, die sowohl Eltern als auch Lehrer/innen bzw. Erzieher/innen ausfüllen, aber auch (bei entsprechendem Alter) Jugendliche selbst. Tabelle 3 enthält Beispiele für Einschätzungsverfahren aus Sicht der Lehrkraft, die zum Einsatz kommen können:

Tab. 3: Beispiele für Einschätzungsverfahren aus Sicht der Lehrkraft im Rahmen einer ADHS-Diagnostik

Der ADHS-spezifische Bogen des DISYPS-II (FBB-ADHS: Fremdbeurteilungsbogen ADHS) fragt die Verhaltenskriterien aus den Klassifikationssystemen ICD-10 bzw. DSM-IV nahezu direkt ab. Daneben sind auch Fragen zum Beginn und der Dauer der Probleme, der Situationsspezifität und der Belastung für das Umfeld und die Betroffenen enthalten. Wichtig ist zu unterscheiden, dass es sich bei den genannten Einschätzungsbögen nicht um Testverfahren handelt, die das Vorliegen einer ADHS gleichsam »abtesten« und eine eindeutige Diagnose liefern können. Vielmehr handelt es sich um eine, auf der Beobachtung im Schulalltag basierende, resümierende Bewertung einzelner Verhaltensweisen. Diese stellt nur einen Mosaikstein im Gesamtbild des diagnostischen Prozesses dar, zumal verschiedene Beurteilende zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen könnten. Eine Aufgabe des Diagnostizierenden besteht somit darin, auch widersprüchliche Befunde zu integrieren und zu einer Gesamteinschätzung zu kommen.

Eine Besonderheit bei ADHS im Schulalter ist die Forderung nach einer direkten Verhaltensbeobachtung im Unterricht und in den Pausen durch die/den Diagnostiker/in. Beobachtungsphasen umfassen idealerweise verschiedene Schulstunden (nicht nur ein Schulfach!) und Pausen an mehreren Tagen. Dabei geht es sowohl um das Lern- und Arbeitsverhalten als auch das Sozialverhalten (Gawrilow, 2012).

Die Entwicklungsgeschichte wird meist im Gespräch mit den Eltern thematisiert. Bezogen auf ADHS ist hierbei vor allem der Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens der Verhaltensprobleme relevant. Für eine Diagnosestellung nach ICD-10 müssen die Probleme derzeit noch vor dem sechsten Lebensjahr aufgetreten sein. Das DSM-5 hat dieses Alter jedoch auf zwölf Jahre angehoben. Daneben ist von Bedeutung, inwiefern sich die Probleme im Entwicklungsverlauf gewandelt haben. Gerade bei einer diagnostischen Abklärung im Jugendalter ist damit zu rechnen, dass die hyperaktive Symptomatik mit zunehmenden Alter in den Hintergrund tritt, dafür aber weitere komorbide Störungen auftreten können ( Kap. 1).

Die Abklärung psychosozialer Rahmenbedingungen und familiärer Ressourcen wird vor allem durch das Gespräch mit den Eltern vorgenommen. Dort wird z. B. das Erziehungsverhalten thematisiert. Auch die Ausgestaltung der familiären Beziehungen und die Bewältigungsstrategien der Eltern in kritischen Erziehungssituationen sind von Interesse. Insbesondere aber ist im diagnostischen Gespräch das Störungskonzept der Eltern relevant. Welche Theorien zur Entstehung der Probleme haben diese? Welche Erwartungen, was eine mögliche Intervention angeht, stehen im Raum? Wie bereit sind die Eltern, den Interventionsprozess aktiv mitzugestalten. Ähnliche Fragen sind auch an Lehrer/innen bzw. Erzieher/innen zu stellen. Auch hier interessieren vor allem das Störungskonzept und die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit der Bezugspersonen. Daneben sind Ressourcen auszumachen, wie etwa eine gute Integration eines Kindes/Jugendlichen in die Gruppe, sowie negative Bedingungen, wie z. B. eine große Klassengröße oder ein hoher Anteil verhaltensauffälliger Kinder in einer Klasse.

Nach dem Stellen der Diagnose ADHS ist der Prozess der Diagnostik nicht abgeschlossen. Vor allem im Sinne der Kontrolle von Effekten schulischer oder außerschulischer Interventionen sollten erneute Untersuchungen mit den oben beschriebenen Methoden (Gespräch, Verhaltensbeobachtungen, Einschätzungsverfahren) durchgeführt werden. Auch zur individuellen Anpassung der Dosis im Falle einer Medikation ist eine regelmäßige Überprüfung indiziert. Insbesondere vor dem Hintergrund möglicher Nebenwirkungen, der rapiden körperlichen Veränderung und der individuell verschiedenen Wirkung ist die kontinuierliche Rückmeldung und Dosisanpassung notwendig.

Wie bereits erwähnt tritt eine ADHS meistens nicht isoliert auf; komorbide Störungen sind eher die Regel als die Ausnahme. Eine...