Das Recht der Alten auf Eigensinn - Ein notwendiges Lesebuch für Angehörige und Pflegende

Das Recht der Alten auf Eigensinn - Ein notwendiges Lesebuch für Angehörige und Pflegende

von: Erich Schützendorf

ERNST REINHARDT VERLAG, 2015

ISBN: 9783497602261 , 228 Seiten

5. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 18,99 EUR

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Das Recht der Alten auf Eigensinn - Ein notwendiges Lesebuch für Angehörige und Pflegende


 

Der Beginn der Erziehung

Frau Schmitz ist nicht mehr die Alte

Kaum jemand will den Begriff „Erziehung“ mit alten Menschen in Verbindung bringen.

Alte Menschen erzieht man nicht,

heißt es kategorisch. Diese Meinung vertritt auch Karin, die 48-jährige Tochter von Frau Schmitz in einem Gespräch mit mir. Die Erziehung alter Menschen scheint ihr unwürdig und widersinnig. Kinder und Jugendliche erzieht man. Aber doch nicht die Alten!

Und überhaupt,

beharrt Karin,

die Alten lassen sich doch gar nicht mehr erziehen.

Das mag so sein. Aber zu dieser Erkenntnis wird Karin erst nach vielen fehlgeschlagenen Erziehungsversuchen gekommen sein.

Ich gehe davon aus, dass nicht nur die Mutter von Karin erzogen wird, sondern überall und jeden Tag Menschen, die als alt angesehen werden, vielfältigen Erziehungsbemühungen ausgesetzt sind. Gnadenlos wird in das Leben alter Menschen eingegriffen, werden Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen und Rahmenbedingungen geschaffen, die ihren Entscheidungsspielraum und ihr Recht auf Selbstbestimmung einschränken. Meist fallen die Erziehungsakte als solche nicht mal auf, weil sie in der Logik des alltäglichen Handelns notwendig, folgerichtig und natürlich erscheinen. Sie ergeben sich gewissermaßen von alleine, weil es eine weitverbreitete Übereinkunft gibt, dass alte Menschen das Kümmern, Anleiten und Abnehmen von Entscheidungen brauchen, ja erwarten. Also lautet die Gegenfrage von Karin:

Was soll man denn tun, wenn die Alten nicht mehr einsichtig sind, ihre Dinge nicht mehr verlässlich regeln, wenn sie auf Hilfe angewiesen sind?

Dann stellt sie fest:

Man muss doch etwas tun.

Richtig. Aber bei dem, was so getan wird, will niemand von Erziehung reden. Erziehung klingt nach Reglementierung, Bevormundung, Gängelung und Bestrafung. All dies will keiner, aber genau dies geschieht.

Man tut doch alles für Mutter, zu ihrem Schutz und zu ihrem Besten,

erklärt Karin. Sicher, die Tochter von Frau Schmitz handelt nicht in böser Absicht; aber gerade die gute Absicht macht das Wesen des erzieherischen Handelns aus. Das erzieherische Einwirken auf alte Menschen ist ja nicht grundsätzlich zu verurteilen, wenn es darum geht, alte Menschen vor Schaden zu bewahren, sie von Verhaltensweisen, die andere belästigen oder gefährden, abzuhalten oder ihnen Entwicklungsmöglichkeiten zu erschließen, von denen man annehmen darf, dass sie zu ihrem Wohlergehen beitragen und in ihrem Interesse liegen könnten.

Insofern sind die Motive für Karins Handeln anzuerkennen. Die gute Absicht gerät jedoch leicht zur bösen Tat. Was zum Wohle der Mutter gedacht war, schlägt bei der Umsetzung ins Gegenteil um: Karin setzt die Mutter unter Druck, reglementiert und bevormundet sie. Dies geschieht, so behaupte ich, weil Karin ihr Handeln nicht als Erziehung begreift und deshalb nicht über die Absichten, Ziele und Wirkungen ihrer Bemühungen nachdenkt. Sie fragt sich beispielsweise nicht, wo die Grenzen liegen, bis zu deren Erreichung sie sich bei einer Gefährdung oder Belästigung zurückhalten sollte, oder nach welchen Kriterien sie entscheidet, was im Interesse der Mutter liegt.

Karin begreift die (An-)leitung ihrer Mutter als eine selbstverständliche Pflicht, der sie sich nicht entziehen darf, und dieses Selbstverständnis erlaubt es ihr, unbedacht und unüberlegt auf die Mutter einzuwirken.

„Wenn Erzieher nicht aufhören können zu erziehen, so deshalb, weil sie nie autorisiert waren zu beginnen.“

N. Luhmann[1]

Die Geschichte von Karin, die ihre Mutter erzieht, beginnt eines Tages, als Karin von einer Bekannten gefragt wird:

Wie geht es deiner Mutter?

Früher hätte Karin solche Fragen nicht sehr ernst genommen und geantwortet:

Der geht es so weit gut. Die kommt zurecht.

Sie hatte sich nie Sorgen um ihre Mutter gemacht. Bei ihren letzten Besuchen war Karin allerdings aufgefallen, dass die Kräfte ihrer Mutter nachgelassen hatten, sie wirkte wehleidiger, passiver, vergesslicher und unkonzentrierter. Deshalb antwortete sie der Bekannten:

Ich glaube, Mutter wird alt.

Sie ist nicht mehr die Alte.

Von diesem Moment, in dem Karin sich über den Zustand ihrer Mutter besinnt, ist Frau Schmitz für ihre Tochter nicht mehr die Mutter, die ihr Leben meistert, sondern eine alte Frau, die man beobachten muss.

Karin erlebt nun den Umgang mit ihrer Mutter als immer schwieriger werdend. Ihr scheint, dass Mutter in vielen Dingen interesseloser geworden ist und immer häufiger starrsinnig reagiert. Auch scheint die Ordnungsliebe und Sauberkeit der Mutter nachzulassen. Gut gemeinte Vorschläge von ihr führen bei der Mutter zu Trotzreaktionen oder Wutausbrüchen. Die Gespräche mit der Mutter werden von Besuch zu Besuch erregter:

„Mutter, komm uns mal besuchen.“

„Ich fühl mich nicht gut.“

„Du fühlst dich nie gut.“

„Heute geht es mir ganz schlecht.“

„Dir geht es immer ganz schlecht.“

„Lass mich!“

Eines Tages nimmt Karin den Geruch von Verbranntem in der Wohnung ihrer Mutter wahr. Frau Schmitz muss zugeben, dass sie vor einigen Tagen vergessen hatte, die Herdplatte auszuschalten und so das Fleisch in der Pfanne angebrannt war. Die Pfanne sei ja nun nicht mehr zu gebrauchen, befindet Karin. Frau Schmitz ist anderer Meinung; immerhin hat die Pfanne jahrelang gute Dienste getan, und ihr verstorbener Mann, Karins Vater, habe immer gesagt, dass diese Pfanne ihr Geld wert wäre.

Karin lässt die Pfanne in der Mülltonne verschwinden. Abends bespricht sie die neue Entwicklung ihrer Mutter mit ihrem Mann.

Natürlich,

erregt sich Karin, als ihr Mann den Vorfall mit der vergessenen Herdplatte herunterspielt,

natürlich vergesse ich auch hin und wieder, die Kaffeemaschine auszuschalten. Aber wann ist mir das zuletzt passiert? Dir ist das doch auch schon passiert. Außerdem ist das etwas ganz anderes. Mutter ist alt. 73 Jahre. Das ist keine normale Vergesslichkeit. Vergesslichkeit im Alter ist doch wohl bedrohlicher, als wenn wir mal was vergessen.

Da gibt ihr Mann ihr recht. Man müsse damit rechnen, dass Mutter nun öfter etwas vergesse.

Was da alles passieren kann,

sorgt sich Karin. Und dann setzt sich ein Gedanke bei ihr fest, den sie nicht zu Ende denken will:

Was da alles auf uns zukommen kann.

Karin ist in Sorge um ihre Mutter und sie beschließt, die Mutter aufmerksamer als bisher zu beobachten. Sie will sich nicht mehr darauf verlassen, dass Mutter alleine zurechtkommt. Leicht fällt ihr die Gewissheit, für die älterwerdende Mutter verantwortlich zu sein, nicht. Ihr Leben wird sich mit der neuen Verpflichtung verändern, und sie fürchtet sich vor den kommenden Belastungen. Frau Schmitz wird nun täglich von ihrer Tochter angerufen oder besucht. Die Tochter ist voller Sorge:

Wie fühlst du dich heute?

Denkst du auch an den Herd?

Vergiss nicht, das Bügeleisen auszuschalten.

Hast du deine Tabletten genommen?

Was sagt der Arzt?

Was hast du heute getan?

Ruf mich sofort an, wenn etwas ist.

Frau Schmitz reagiert gereizt:

Sag mal, glaubst du eigentlich, dass ich ein kleines Kind bin? Ich komme noch ganz gut alleine zurecht.

Karin ist irritiert:

Ja, nein, ...

sicher, Mutter, kommst du alleine zurecht.

Ich mein ja nur ...

Ja, also, dann bis morgen.

Abends bei ihrem Mann beklagt sich Karin:

Mutter will nicht einsehen, dass sie Hilfe benötigt.

Die besorgte Tochter versteht die Welt nicht mehr. Sie meine es gut, gebe sich alle Mühe und dann reagiere Mutter in dieser unverständlichen Weise.

So kann es doch wohl nicht weitergehen.

Also führt die Tochter in der Folgezeit ernsthafte (zermürbende und quälende) Gespräche mit der Mutter:

Mutter, mit dem Herd, das war doch nicht das erste Mal, dass du etwas vergessen hast.

Überleg doch mal!

Wie konntest du das nur vergessen.

Es gibt doch Essen auf Rädern.

Du kannst doch auch mal bei uns essen.

Hier bist du immer alleine.

Überhaupt, seit Vaters Tod gehst du kaum unter Leute. Geh doch mal in den Altenclub. Ich bring dich dort mal hin. Tante Elisabeth geht auch dahin. Das ist doch nett, mal ’ne Abwechslung.

Was sagt denn dein Arzt? Es gibt doch bestimmt ein Mittel gegen Durchblutungsstörungen.

Du hast doch früher nichts vergessen.

Ich versteh das nicht.

Ich spüle nachher mal alles.

Irgendwie, ich weiß nicht, also früher, da warst du immer so ordentlich. Sieh mal hier die Tasse, die hab ich gerade aus dem Schrank geholt, sind noch Ränder vom Kaffee drin.

Hast du einen Termin beim Arzt?

Nein? Das musst du aber.

Gut, wenn du nicht willst, kann ich dir nicht helfen.

Du...