Ein neuer Geist des Kapitalismus? - Paradoxien und Ambivalenzen der Netzwerkökonomie

von: Gabriele Wagner, Philipp Hessinger

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2008

ISBN: 9783531910741 , 331 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,96 EUR

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Ein neuer Geist des Kapitalismus? - Paradoxien und Ambivalenzen der Netzwerkökonomie


 

Friedhelm Hengsbach (S. 145-146)

Kapitalismus als Religion?

„Religion" scheint ins öffentliche Bewusstsein zurück gekehrt zu sein. Politischer Terrorismus und hegemoniale Kriege werden religiös begründet. Junge Menschen besinnen sich auf religiöse Werte, suchen spirituelles Erleben, wandern auf überlieferten Pilgerwegen und strömen zu papstkirchlichen Events. Ist die säkulare Gesellschaft in Europa an einen Wendepunkt geraten? Gilt es als zeitgemäß, religiöse Überzeugungen öffentlich zu bekennen? Traut man einem religiösen Deutungsmuster gar zu, das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem des globalisierten Kapitalismus auf den Begriff zu bringen? Max Weber war offensichtlich bereits am Ende des Ersten Weltkriegs von solchen Ahnungen erfüllt.

In einem Vortrag, den er vor Studierenden der Münchener Universität 1917 gehalten hat, kennzeichnete er als das hervorstechende Merkmal der gegenwärtigen Epoche die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung der Lebensbedingungen durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik. Sie sind nicht länger dem Spiel geheimnisvoller, unberechenbarer Mächte ausgeliefert, sondern durch Berechnung beherrschbar. „Das aber bedeutet: Die Entzauberung der Welt" (Weber 1951: 578). Dieser Entzauberungsprozess, der sich in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzt hat, ist zu einer unentrinnbaren Gegebenheit der gegenwärtigen Zeit geworden.

Er hat die religiös-moralische Klammer, die traditionelle Gesellschaften zusammen hielt, gesprengt und zwei heterogene Sphären hervorgebracht, nämlich einerseits die öffentliche Sphäre der Wissenschaft, in der Tatsachen und Sachverhalte festgestellt werden, anderseits die private Sphäre religiöser Überzeugungen, bei denen persönliche Stellungnahmen und Anschauungen dominieren. Die Dualität von Analyse und Werturteil, von Wissen und Glauben, von methodischethischer und religiös-sinnvoller Lebensführung ist für Max Weber endgültig. In der Sphäre rationaler Experimente, mit deren Hilfe Erfahrungen zuverlässig kontrolliert werden, lässt sich eine Verständigung über das erzielen, was ist.

In der Sphäre subjektiver Werturteile und religiöser Heilserwartungen dagegen entsteigen die alten vielen Götter aus ihren Gräbern, streben nach Gewalt über die jeweilige Lebenspraxis „und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf" (Weber 1951: 589). Welchem der miteinander kämpfenden Götter zu dienen sei, lässt sich mit den Methoden der Wissenschaft nicht bestimmen. Der Prophet, der eine weltanschauliche Position vertritt, gehört nicht in den Hörsaal, wohl aber der Wissenschaftler, dem es rein um die Sache geht. Weber sah zwar die Gefahr, dass ein Teil der Jugend in die Vorlesung kommt, „um etwas anderes zu erleben als nur Analysen und Tatsachenfeststellungen" (Weber 1951: 589), dass die jungen Leute weniger die wissenschaftliche Arbeit, sondern das sensationelle Erlebnis suchen, und dass sie dazu neigen, die Würde ihrer eigenen menschlichen Gemeinschaften wiederum durch eine religiöse Deutung zu überformen.

Aber er selbst setzte sich solchen übersteigerten Erwartungen zur Wehr: Mit der Intellektualisierung und Rationalisierung, vor allem der Entzauberung der Welt seien die letzten Werte aus der Öffentlichkeit in das Reich mystischen Lebens oder in die Intimität persönlicher Beziehungen getreten. „Es kann, glaube ich, gerade dem inneren Interesse eines wirklich religiös »musikalischen« Menschen nun und nimmermehr gedient sein, wenn ihm und anderen diese Grundtatsache, dass er in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben das Schicksal hat, durch ein Surrogat, wie es alle diese Kathederprophetien sind, verhüllt wird. Die Ehrlichkeit seines religiösen Organs müßte, scheint mir, dagegen sich auflehnen" (Weber 1951: 593 f.).