Atlas der Pharmakologie und Toxikologie für Zahnmediziner

von: Franz-Xaver Reichl, Klaus Mohr, Lutz Hein, Reinhard Hickel

Georg Thieme Verlag KG, 2014

ISBN: 9783132001725 , 432 Seiten

2. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 86,99 EUR

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Atlas der Pharmakologie und Toxikologie für Zahnmediziner


 

1 Allgemeine Prinzipien


1.1 Arzneimittelherkunft


Am Anfang der Entwicklung steht die Synthese neuer chemischer Verbindungen. Substanzen mit komplizierter Struktur lassen sich aus Pflanzen (z.B. Morphin), aus tierischem Gewebe (z.B. Heparin), aus Kulturen von Mikroorganismen (z.B. Penicillin G) oder mittels gentechnischer Verfahren gewinnen (z.B. Humaninsulin). Je mehr über den Zusammenhang zwischen Struktur und Wirkung bekannt ist, desto gezielter kann nach neuen Wirkstoffen gesucht werden.

Über die Wirkungen der neuen Substanzen gibt die präklinische Prüfung Auskunft. Zur ersten Orientierung können biochemisch-pharmakologische Untersuchungen (z.B. Rezeptor-Bindungs-Experimente, Kap. ▶ 1.8.4) dienen oder Versuche an Zellkulturen, isolierten Zellen und Organen. Da derartige Modelle aber niemals das komplexe biologische Geschehen in einem Lebewesen zu imitieren vermögen, müssen potenzielle Arzneistoffe vor der Anwendung am Menschen an Tiere verabreicht werden. Erst Tierversuche zeigen, ob die gewünschte Wirkung tatsächlich eintritt und Giftwirkungen ausbleiben.

Toxikologische Untersuchungen dienen zur Prüfung auf die Giftigkeit bei akuter und chronischer Anwendung (akute und chronische Toxizität), auf eine Erbgutschädigung (Mutagenität), auf eine Krebserzeugung (Kanzerogenität) oder eine Fehlbildungsauslösung (Teratogenität). An Tieren muss erkundet werden, wie sich die Verbindungen im Organismus hinsichtlich Aufnahme, Verteilung und Ausscheidung verhalten (Pharmakokinetik).

Schon in den präklinischen Untersuchungen erweist sich nur ein sehr kleiner Teil der Verbindungen als möglicherweise geeignet für die Anwendung am Menschen. Mit den Verfahren der pharmazeutischen Technologie werden Darreichungsformen der Substanzen hergestellt. Der Begriff „Arzneimittel“ bedeutet: Arzneistoff in seiner Darreichungsform.

Die klinische Prüfung (▶ Abb. 1.1) beginnt in Phase 1 bei gesunden Versuchspersonen mit der Überprüfung, ob die im Tierversuch beobachteten Wirkungen auch am Menschen auftreten. Der Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung ist festzustellen. In Phase 2 wird das potenzielle Arzneimittel zum ersten Mal an ausgewählten Patienten gegen die Krankheit eingesetzt, für deren Therapie es gedacht ist. Zeigt sich eine gute Wirkung und ein vertretbares Ausmaß an Nebenwirkungen, folgt in Phase 3 an einem größeren Patientengut der Vergleich des therapeutischen Erfolgs des neuen Wirkstoffes mit dem der bisherigen Standardtherapie. Während der klinischen Prüfung erweisen sich weitere der Substanzen als unbrauchbar. So bleibt von ca. 10 000 neu synthetisierten Substanzen im Durchschnitt schließlich ein Wirkstoff als Arznei übrig.

Die Entscheidung über die Zulassung als Arzneimittel trifft auf einen entsprechenden Antrag des Herstellers hin eine staatliche Behörde, in der Bundesrepublik Deutschland das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM mit Sitz in Bonn) oder die Kommission der Europäischen Union nach vorheriger Prüfung der Unterlagen durch die European Agency for the Evaluation of Medicinal Products (EMA) mit Sitz in London. Der Antragsteller hat anhand seiner Untersuchungsergebnisse zu belegen, dass die Kriterien Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erfüllt sind und die Darreichungsformen den Qualitätsnormen entsprechen.

Nach der Zulassung darf der neue Wirkstoff als Arzneimittel mit einem Handelsnamen auf den Markt gebracht werden und steht damit den Ärzten zur Verordnung und den Apotheken zur Abgabe an den Patienten zur Verfügung. Während der allgemeinen Anwendung wird weiter beobachtet, ob sich das Arzneimittel bewährt (Phase 4).

Aktivitäten zur Erkennung und Abwehr von Arzneimittelrisiken in der klinischen Prüfung und nach der Markteinführung werden unter dem Begriff Pharmakovigilanz zusammengefasst. Die Meldung von Verdachtsfällen unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) an die Arzneimittelkommissionen der Ärzte- oder Apothekerschaft oder an das BfArM gehört dazu (Formblatt erhältlich über www.bzaek.de).

Erst die Abwägung von Nutzen und Risiko auf der Basis langjähriger Erfahrung erlaubt letztlich die Bestimmung des therapeutischen Wertes des neuen Arzneimittels. Bietet das neue Mittel gegenüber schon vorhandenen kaum Vorteile, muss auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis beachtet werden.

Abb. 1.1 Von der Synthese des Wirkstoffes bis zur Zulassung des Arzneimittels.

1.2 Nutzenbewertung von Arzneimitteln


Gesetzliche Nutzenbewertung neuer Arzneimittel (▶ Abb. 1.2a) Zur Eindämmung der steigenden Kosten im Gesundheitswesen wurde 2011 ein Verfahren zur Nutzenbewertung neuer Arzneimittel gesetzlich vorgeschrieben (▶ Abb. 1.2a). Der Ablauf des Verfahrens ist im Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) festgeschrieben. Unmittelbar mit der Markteinführung eines neuen Wirkstoffes muss der Hersteller dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) Unterlagen („Dossier“) vorlegen, die den möglichen Zusatznutzen gegenüber der bisherigen Standardtherapie darlegen. Der Bundesausschuss wird von dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) gutachterlich beraten. Auch andere Organisationen (z.B. die Arzneimittelkommission der Bundesärztekammer) können Stellungnahmen zu den vorgelegten Unterlagen abgeben. Nach drei Monaten entscheidet der G-BA, ob und welchen Zusatznutzen das neue Arzneimittel hat. Besteht ein Zusatznutzen gegenüber der bisherigen Vergleichstherapie, wird der Preis für das neue Arzneimittel zwischen dem Hersteller und Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-Spitzenverband) ausgehandelt. Für Arzneimittel ohne Zusatznutzen wird ein Festbetrag als Preis vorgeschrieben.

Bis Januar 2014 wurden 92 neue Wirkstoffe bzw. Wirkstoffkombinationen dieser Nutzenbewertung unterzogen. Bei ca. 50 % der neuen Arzneimittel konnte kein Zusatznutzen festgestellt werden. Bei 10 % wurde ein beträchtlicher Zusatznutzen, bei 22 % ein geringer Zusatznutzen attestiert. Aktuelle Informationen über das Verfahren und die Bewertungsergebnisse können im Internet auf der Seite des Gemeinsamen Bundesausschusses eingesehen werden: www.g-ba.de.

Nutzenbewertung – Numbers needed to treat Viele Arzneimittel werden zur Prophylaxe verabreicht, um Patienten späteres Leid zu ersparen. Dies betrifft beispielsweise den Bluthochdruck, der an sich meist keine Beschwerden hervorruft, jedoch das Risiko für schwere Leiden wie Herzinfarkt und Schlaganfall erhöht. Die prophylaktische Arzneimittelbehandlung geht ihrerseits mit einem Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen einher. Um das zu erwartende Ausmaß des Nutzens einer prophylaktischen Maßnahme zu quantifizierten, wird die „number needed to treat“ (NNT) verwendet. Diese Zahl gibt an, wie viele Personen prophylaktisch behandelt werden müssen, damit eine Person einen Nutzen hat. Die Berechnung stützt sich auf die Ergebnisse von klinischen Studien. Dieser Parameter ist strikt von der prozentualen Risikoreduktion zu unterscheiden. ln ▶ Abb. 1.2b sind die Ergebnisse einer Studie zur Prophylaxe von Wirbelkörper-Brüchen schematisch illustriert. Die mehrjährige Behandlung reduzierte das relative Frakturrisiko um 70 % bezogen auf das Frakturrisiko in der placebobehandelten Kontrollgruppe. Dieser Quotient gibt jedoch nicht zu erkennen, mit welchem Nutzen der einzelne Patient statistisch gesehen rechnen darf. Da das Frakturereignis an sich relativ selten ist (nur etwa jeder Zehnte ist im Beobachtungszeitraum betroffen), ergibt sich ein NNT-Wert von 13. Die restlichen zwölf Behandelten hätten statistisch gesehen keinen Nutzen, entweder weil sie ohnehin keine Wirbelfraktur erlitten hätten oder weil das Medikament im individuellen Fall nicht genützt hätte. Der Pharmakoökonom kann nun berechnen, wie viel ein verhindertes Ereignis (hier Fraktur) die Gemeinschaft der Versicherten gekostet hätte.

Abb. 1.2 Nutzenbewertung von Arzneimitteln.

Abb. 1.2a Gesetzliche Nutzenbewertung von Arzneimitteln.

Abb. 1.2b „Number needed to treat“ – Beispiel.

1.3 Arzneistoffdarreichung


1.3.1 Von der Applikation zur Verteilung im Körper


Vielfach erreichen Arzneistoffe erst auf dem Weg über die Blutbahn den gewünschten Wirkort: systemische Arzneimittelanwendung, beispielsweise nach peroraler Gabe eines Analgetikums gegen Zahnschmerzen. Bei einer lokalen Anwendung sind Applikations- und Wirkort des Arzneistoffes identisch, so bei einer zahnärztlichen Lokalanästhesie. Jedoch kann der Arzneistoff auch bei einer lokalen Anwendung in die Blutgefäße diffundieren und sich dann mit dem Blut im Körper verteilen.

Für die systemische Anwendung sind verschiedene Eintrittsorte möglich. Der Wirkstoff kann intravenös injiziert oder infundiert werden. In diesem Falle wird der Wirkstoff...