Entwicklungspsychologie des Säuglings- und Kindesalters (Enzyklopädie der Psychologie : Themenbereich C : Ser. 5 ; Bd. 4)

von: Marcus Hasselhorn, Rainer K. Silbereisen (Hrsg.)

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2008

ISBN: 9783840905902 , 903 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 149,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Entwicklungspsychologie des Säuglings- und Kindesalters (Enzyklopädie der Psychologie : Themenbereich C : Ser. 5 ; Bd. 4)


 

12. Kapitel Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur (S. 531-532)

Heidi Keller und Athanasios Chasiotis

1 Einleitung

Entwicklung umschreibt den Prozess des Erwerbs kultureller Inhalte auf der Grundlage biologischer Prädispositionen. Kultur definiert die Inhalte von Entwicklungsprozessen und ist somit das Medium des Menschen zur Anpassung an die Umwelt. Sie umfasst dabei die reale, soziale und mentale Auseinandersetzung mit der physikalischen, kommunikativen und spirituellen Umgebung sowie den daraus entstehenden Produkten. Dabei wird deutlich, dass Kultur sowohl innerhalb als auch außerhalb des Menschen existiert und ein Kontinuum der Übergänge beinhaltet. So wie Entwicklung ein Prozess der Veränderung ist, ist auch Kultur ein ontogenetischer und historischer Prozess von Veränderungen (Keller, 2003, Greenfield, 1996).

Die Sichtweise von Entwicklung als Konstruktion und Ko-Konstruktion kultureller Inhalte auf der Grundlage biologischer Prädispositionen ist relativ neu (vgl. Keller, 2002, Greenfield, 2002, Keller & Chasiotis, 2006, Greenfield, Fuligni, Keller & Maynard, 2003) und stellt eine Herausforderung an die bisherigen kategorialen, dichotomen Betrachtungsweisen von Natur und Kultur dar (s. dazu Keller & Eckensberger, 1998). Im Folgenden sollen daher zunächst drei Kategorien der Betrachtung der Beziehung zwischen Kultur und Entwicklung skizziert werden: die kulturvergleichende, die kulturpsychologische und die indigene Sichtweise1. Danach werden die Grundlagen für eine integrative Betrachtung im oben definierten Sinne vorgestellt, nämlich die Natur des Men schen und die kulturellen Variationen. Im Hauptteil dieses Kapitels wird dann die Entwicklung in der frühen Kindheit in verschiedenen Sozialisationspfaden nachgezeichnet, die prototypische kulturspezifische Modelle für universelle Entwicklungsaufgaben darstellen, die dennoch auf verschiedenen Dimensionen variieren können.

2 Die Betrachtung von Kultur in der Entwicklungspsychologie

2.1 Die kulturvergleichende Perspektive


Untersuchungen von Entwicklungsphänomenen und Parametern aus einer kulturvergleichenden Perspektive sind im Wesentlichen darauf ausgerichtet, pankulturelle, d. h. universelle Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Auf der Grundlage klassischer ethologischer Ansätze, wie sie von Nico Tinbergen, Karl von Frisch und Konrad Lorenz zu Beginn des letzten Jahrhunderts entwickelt wurden, hat Irenäus Eibl-Eibesfeldt eine Humanethologie definiert, die die auf den Arbeiten von Charles Darwin aufbauende artvergleichende Ethologie auch auf den Menschen bezog und begann, die universelle Natur des Menschen zu dokumentieren (Eibl-Eibesfeldt, 1989, s. auch Schleidt, 1997). Dazu gehören z. B. ein universelles Repertoire des Emotionsausdrucks und des Emotionsverstehens (vgl. Casimir & Schnegg, 2002), ebenso wie ein universelles Repertoire kommunikativen Verhaltens, das auch die Regulation zwischen Mutter oder genauer: Bezugsperson und Kind einschließt (Keller, Schölmerich & Eibl-Eibesfeldt, 1988).

Auf der Annahme evolvierter Anpassungsmuster basiert auch der psychobiologische Ansatz, der insbesondere die Interaktionsregulation zwischen Säuglingen und ihren Bezugspersonen unter dem Gesichtspunkt evolvierter kommunikativer Kapazitäten betrachtet (z. B. Trevarthen, 1979, Schaffer, 2000). Papous¡ek und Papous¡ek (1991) haben ein intuitives Elternprogramm vorgeschlagen, das ein universelles Repertoire elterlicher Verhaltensbereitschaften annimmt, die auf die ebenfalls evolvierten kommunikativen Kapazitäten des Säuglings abgestimmt sind und die eine intuitive Regulation des Interaktionsgeschehens ermöglichen.

Die Annahme einer kultur-, geschlechts- und auch weitgehend altersunabhängigen Wirkweise des intuitiven Elternprogramms wurde insbesondere anhand der elterlichen Sprachanpassungen an den Säugling untersucht („babytalk", „motherese", Fernald et al., 1989, s. auch Papous¡ek, 1994, Keller, 2000a). Unabhängig von der melodischen Struktur der Sprache wurde beispielsweise nachgewiesen, dass Mütter die Stimme anheben, wenn sie mit Säuglingen sprechen, sowie sich in kurzen, einfachen Spracheinheiten ausdrücken, lange Pausen machen und Quasi-Dialoge konturieren.