Das Prinzip Selbstverantwortung

von: Reinhard K. Sprenger

Campus Verlag, 2007

ISBN: 9783593415840 , 257 Seiten

12. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 23,99 EUR

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Das Prinzip Selbstverantwortung


 

Einleitung
Ein Rechen-Exempel
'Ich ging eines Tages über den Kundenparkplatz eines unserer Kaufhäuser und sah einen Gartenarbeiter damit beschäftigt, Laub zusammenzufegen. Er benutzte dazu einen Rechen, der noch etwa 15 Zähne hatte - normalerweise hat ein solcher Rechen etwa 30 Zähne. Ich fragte ihn: ?Warum benutzen Sie diesen alten Rechen? Sie kommen damit doch kaum vorwärts!? - ?Man hat mir diesen Rechen gegeben?, antwortete der Gartenarbeiter in aller Ruhe. ?Warum haben Sie sich denn nicht einen besseren Rechen genommen?? beharrte ich. ?Das ist nicht meine Aufgabe?, antwortete er. Ich dachte: ?Wie kann man einem Mitarbeiter nur solch ein schlechtes Werkzeug geben? Ich werde seinen Gruppenleiter ausfindig machen und mit ihm sprechen. Sein Job ist es sicherzustellen, dass seine Leute das richtige Werkzeug haben.?'
James Belasco hat diese Geschichte erzählt, die einiges von dem aufzeigt, wogegen ich in diesem Buch anschreibe: den Pontius-Pilatus-Tonfall des 'Ich bin nicht verantwortlich' vor allem, sowie einen völlig überzogenen Führungsbegriff. Fragen ergeben sich daraus: Wofür ist der Mitarbeiter verantwortlich? Lösen Sie das Problem, wenn Sie die Führungskraft verantwortlich machen? Was ist zu tun, um diese Situation grundsätzlich zu verbessern? Muss nicht jeder Mitarbeiter für seine Leistung selbst Verantwortung übernehmen? Was aber ist dann die Aufgabe der Führung? Und was heißt ?Verantwortung delegieren??
Nachdem ich 'Mythos Motivation' veröffentlicht hatte, bin ich - öfter, als anzunehmen war - darauf angesprochen worden, ob ich dieser Arbeit eine weitere folgen lassen wollte. Insbesondere wünschten sich viele Leser ein konkreteres 'Wie denn besser?'. Nun, dieses Buch ist ein Folgeband zu 'Mythos' - aber es ist eigentlich der vorausgehende. Wohl führt es einige der dort vorgelegten Gedanken fort, namentlich vertieft es die (vor allem auf den letzten Seiten) angedeuteten Thesen zur Selbstmotivierung. Jedoch tut es das auf eigenständige Weise. Die vermeint-
lichen Demarkationslinien zwischen Berufs- und Privatleben - ohnehin eine irreführende Grenzziehung - zerfließen vollständig. Ich hoffe jedenfalls, dass viele von Ihnen Ihr eigenes Leben, Ihre eigenen Fragen mit diesem Buch durchspielen können.
Die zentrale Frage
Bücher, die mit 'Alles wird komplexer, schneller, chaotischer' beginnen, lese ich nicht mehr. Beim Salto mortale in der Operettenwelt der Managementmethoden gibt es kaum nennenswerten Geländegewinn. Natürlich ist der Wind rauer geworden. Natürlich haben High-Tech im Fernen und Low-Pay im Nahen Osten den Wettbewerb verschärft. Aber die grundlegenden Probleme in unseren Organisationen sind immer noch die alten. So formulierte der Nationalökonom Werner Sombart die zentrale Frage dieses Buches bereits 1913:
'Wie ist dieses möglich: dass gesunde und meist vortreffliche, überdurchschnittlich begabte Menschen so etwas wie wirtschaftliche Tätigkeit wollen können, nicht nur als eine Pflicht, nicht nur als ein notwendiges Übel, sondern weil sie sie lieben, weil sie sich ihr mit Herz und Geist, mit Körper und Seele ergeben haben?'
Führungskräfte fragen heute ähnlich:
o Was kann ich tun, damit Mitarbeiter Verantwortung übernehmen?
o Wie setze ich das Potenzial meiner Mitarbeiter frei?
o Wie schaffe ich ein Unternehmen, in das die Mitarbeiter morgens gerne kommen?
Auf diese Fragen möchte ich antworten.
Einstellungssachen
Die Mobilisierung des Mitarbeiterpotenzials als entscheidender Erfolgsfaktor ist längst kein Geheimtipp mehr. Wir sind kein rohstoffreiches Land. Unser wichtigster Rohstoff ist die Bereitschaft zum Mitmachen. Der Arbeitsplatz bleibt aber leider oft ein initiativefreier Raum. Wir lasten zwar Maschinen aus, aber wir lasten die Menschen nicht aus. Es sind deshalb nicht nur Lohnkosten und Strukturprobleme, die unserem 'Standortdeutschland' zu-
setzen. Wir unterfordern die Menschen.
Vor allem fordern wir nicht konsequent die Selbstverantwortung der Mitarbeiter. Viele Mitarbeiter sind abgetaucht, haben durch jahrzehntelange Entmündigung verlernt, Verantwortung für sich, ihre Motivation und ihre Leistung zu übernehmen. Genau betrachtet befinden sich weite Teile der Mitarbeiterschaft in einer Art psychologischem Streik gegen die Zumutung permanenter Unterforderung. Ihre Arbeitslosigkeit ist innerlich. Auch im Gehirn: Dienst nach Vorschrift.
Die Krise der Arbeit wird vielfach noch mit den alten Rezepten bekämpft, die allenfalls eine spezifische Reparaturintelligenz artikulieren, sich aber nicht von den alten Denkmustern lösen. Die einen greifen in das geldlogische Zeughaus der Motivierung, so wenn sie z.B. der Kreativitätsreserve mit der Wiederbelebung des betrieblichen Vorschlagswesens zu Leibe rücken. Unlösbar ein Problem, das nicht mit dem Griff zur Brieftasche zu lösen ist! Die Knüppel, die sie dabei anderen zwischen die Beine werfen, stammen von dem Holzweg, auf dem sie sich befinden.
Die anderen denken über die Veränderung der Organisationsstrukturen nach. Das Management-Mantra heißt hier: Freiräume, flache Hierarchien, Entbürokratisierung, Dezentralisierung. Dieser zweite Weg scheint mir nötig und erfolgversprechend; da gibt es viele bedenkenswerte Vorschläge und ermutigende Beispiele.
Jedoch: Lean Management, teilautonome Arbeitsgruppen, Kaizen, Reengineering - alle diese Managementkonzepte können nur greifen, wenn sich die Einstellungen der Menschen ändern. Der Forschungsmanager Sigmar Klose von Boehringer Mannheim: 'Mit der optimalen Struktur erreiche ich 20 Prozent. Der Rest ist innere Einstellung, Siegeswille, das ?Wir machen es!?.' Die Strukturoptimierer sitzen jenem Irrtum auf, den jeder schon einmal erlebte, der hoffte, die Reise in ein fernes Land mache ihn glück-
licher: Man nimmt sich halt immer mit.
'Spiele werden im Kopf gewonnen.' Je enger die Leistungsdichte, je schärfer der Wettbewerb, desto wichtiger ist die innere Einstellung, mit der der Mitarbeiter mitarbeitet, die Führungskraft führt, der Verkäufer zum Kunden geht. Insbesondere, was die Einstellung zu Veränderungen angeht. So ist es auch eine Frage der Einstellung, ob man - vergeblich - im Wandel stabil bleiben oder Stabilität im Wandel suchen will. Eindrucksvoll zu sehen, wie schwer sich viele Mitarbeiter tun, dem Wandel etwas Positives abzugewinnen: 'Das geht nicht!' (statt 'Das geht so nicht'). 'Das kann ich nicht!' (statt 'Das kann ich noch nicht'). Offenbar ist das einzige Wesen, das den Wandel liebt, ein nasses Baby.
In diesem Buch geht es mir daher vor allem um das Bewusstsein, mit dem Menschen ihre Arbeit tun. Um eine bestimmte Art, das Leben im Unternehmen zu betrachten. Es geht mir um Engagement, Initiative und das Gefühl, mit dem eigenen beruflichen Lebenszug am richtigen Bahnhof zu stehen. Mein Fokus ist der Einzelne.
Die Hauptstücke
Es gibt keine wichtigere betriebswirtschaftliche Gestaltungsaufgabe als die Wiedereinführung der Selbstverantwortung in die Unternehmen. Dies um so mehr, als es tendenziell immer weniger Führungskräfte und immer größere Führungsspannen geben wird.
Als Negativfolie beschreibe ich dazu im ersten Teil dieses Buches das innerbetriebliche Gerangel um Verantwortung, Schuldzuweisung und Rechtfertigung. Das Ergebnis lautet: Organisierte Unverantwortlichkeit. Gegen Ende dieses Teils unterscheide ich die Begriffe Verantwortung, Selbst-Verantwortung und Commitment.
Das Philosophische Hauptstück legt die geistige Grundlage für Selbstverantwortung, Selbstmotivation und Selbstverpflichtung. Hier richte ich mich nicht an die Führungskraft 'als Führungskraft', sondern an jeden Einzelnen, unabhängig von seinem hierarchischen Rang. Sie werden diesen Teil nur dann mit Gewinn lesen, wenn Sie bereit sind, ihn auf sich selbst zu beziehen, wenn Sie ihn als selbstkritischen Impuls nutzen. Die drei Säulen der Selbstverantwortung: Wählen (Autonomie) - Wollen (Initiative) - Antworten (Kreativität) werden entfaltet.
Obwohl die Überschrift dieses Teils arg mit tiefgekühltem Höhenkamm-Denken droht, sind manche der dort vorgetragenen Sichtweisen von erschlagender Einfachheit. Dass sie neu konstatiert werden müssen, ist der präzise Gradmesser unserer gegenwärtigen Situation in den Unternehmen. Wenn ich gegen die Missachtung von Disziplin, Wille und Verpflichtung zu Felde ziehe, setze ich mich allerdings der Gefahr aus, dass hier viele ihre eigene Mutlosigkeit hinter dem Vorwurf der Realitätsferne verbergen. Utopisch! Theorie! Oder das schlimmste aller Schimpfworte: Philosophie!
Ich warne Sie also: Einige Passagen dieses ersten Hauptstücks werden Ihnen voraussichtlich ausgesprochen unsympathisch sein. Ich hätte sie unterschlagen, wenn sie für die Gesamtargumentation verzichtbar gewesen wären. Sie sind es nicht. Im Gegenteil: Gerade diese Teile bilden die größte Herausforderung an den Leser. Sie erfordern den 'ganzen' Leser, der bereit ist, sich selbst und seine eingeschliffenen Denkmodelle in Frage zu stellen. So kann ich nur an Sie appellieren, das Buch nicht vorschnell zur Seite zu legen. Vieles klärt und erklärt sich im Fortgang des Textes - wie ich hoffe - auf ermutigende und befreiende Weise.
Das Pragmatische Hauptstück bildet die drei Grundprinzipien auf führungspraktische Alltagssituationen ab. Die erkenntnisleitende Frage lautet: Was kann Führung tun, um Selbstverantwortung zu fördern? Der überall geforderten Vorbildlichkeit der Führung setze ich einen Wechsel des Denkrahmens entgegen. Im Dickicht der falschen Alternativen: Vision, Vorbild, Vorgesetzter, werden die Umrisse einer perspektivischen Führungskultur erkennbar.
Perspektivisch ist dieser Entwurf insofern, als ich die Sichtweise des subjektiven Konstruktivismus für Führungsfragen praktisch mache: Wie kommen Urteile über Mitarbeiter zustande? Wie kann ich unbefriedigende Zustände verändern, ohne zu demotivieren? Darüber hinaus diskutiere ich an alltäglichen Situationen die Möglichkeit, dass Mitarbeiter in die Verantwortung gehen - führe aber gleichzeitig den Beweis, dass es unmöglich ist, Verantwortung zu 'übertragen', Mitarbeiter zu 'ermächtigen'. Ich entfalte die These, dass Kritik nicht funktioniert, und biete ein alternatives Vorgehen an. Die Commitment-Mechanik für Zielvereinbarungen wird beschrieben. Den Schluss bildet ein Essay über die Fallstricke der Glaubwürdigkeit.
Der Unterschied zwischen den beiden Hauptstücken ist auch ein Unterschied der logischen Ebenen. Das lässt sich leicht an der Kernfrage des Pragmatischen Hauptstücks verdeutlichen:
Wie können wir ein Unternehmen schaffen, in dem Verantwortung nicht länger als Last, sondern als Lust empfunden wird?
'Völlig falsche Fragestellung', tönt es von engagierter Seite. 'Die Leute wollen doch Verantwortung tragen; nur wird ihnen die Übernahme dieser Verantwortung von misstrauischen und kontrollwütigen Chefs erschwert.' Einverstanden. Also müssen wir den Blick öffnen für eine erweiterte Fragestellung: 'Wie muss Führung aussehen, damit die Mitarbeiter in die Verantwortung gehen?' - 'Moment mal!' ruft es nun von anderer Seite. 'Die wirklich interessante Frage ist doch wohl: Warum geben Mitarbeiter die Verantwortung aus der Hand? Wieso lassen sie sich entmündigen?'
Ich will also in diesem Buch beschreiben, was Selbstverantwortung im Unternehmen ist und wie Führungskräfte sie fördern können. Die Gegner, auf die ich mit dem Finger zeige wie Grünewalds Täufer, sind die Ethik der sauberen Hände durch Nichtstun sowie ein völlig überspannter Führungsbegriff. Im letzteren Fall möchte ich weder einem altklugen Moralismus das Wort reden noch Manager ungerechtfertigt anklagen, wie das heute allenthalben schick geworden ist. Aber vielleicht tun einige Führungskräfte doch das, wozu sie vor lauter Überlegenheit häufig nicht mehr kommen: überlegen.
Praxis
Ich bin Praktiker. Mich interessiert zwar, ob ein Gedanke stimmig ist, mehr aber noch, ob er funktioniert. Für die folgenden Überlegungen führe ich daher ein Kriterium ein, das ich 'praktisch' nenne. Ich frage: 'Ist es praktisch, so zu denken?' Ich frage nicht, ob die von mir vorgetragenen Argumente und Denkfiguren 'richtig' sind, sondern nur ob es 'nützlich' ist, einen solchen Gedanken in sich aufzunehmen.
Das Prüfkriterium ist damit freilich nur funktional bestimmt. Inhaltlich wird es, wenn ich ergänzend frage: 'Stärkt ein Gedanke meine Selbstverantwortung? Oder schwächt er sie?' Argumente, die meine Selbstverantwortung stärken, sind für mich insofern 'wahr'. Gedanken, die das Handeln verhindern, Nicht-Handeln rechtfertigen oder Unzuständigkeit aufrechterhalten, sind für mich insofern 'falsch'. Mein Ansatz ist mithin einer pragmatischen Legitimation verpflichtet, die die Selbstverantwortung des einzelnen zum Moralkern hat.
Ich sage also hier nicht die Wahrheit. Wenn jemand die Wahrheit sagen könnte, hätte sie schon jemand gesagt, und wir bräuchten nicht weiter darüber zu sprechen. Ich möchte Standpunkte entwickeln, die im Sinne der Selbstverantwortung des einzelnen und einer verantwortlichen Unternehmenskultur praktisch sind. Wie alle perspektivischen Ideen setzen auch die hier vorgeschlagenen Denkfiguren den selbstverantwortlichen Einzelnen voraus, der für sich selbst entscheiden muss, was er für wahr hält.
Wer sich allerdings nach der Lektüre bestätigt fühlt - und die meisten Menschen wollen durch Bücher bestätigt werden -, der hat wenig gewonnen. Derjenige, der überhaupt nicht meiner Meinung ist, hat die Chance zu größerem Gewinn. Mit Max Frisch erhoffe ich mir, 'dass der Leser vor allem den Reichtum seiner eigenen Gedanken entdeckt'.
Ja, es gibt noch etwas zu sagen - für jene, die sich einer optimistischen Praxis verschrieben haben. Karl Popper sagte: 'Nichts aber ist verantwortungsloser als Pessimismus.'
Macht hat, wer macht.
Es ist einfach praktisch, so zu denken.