Grundfragen der Wirtschaftspolitik

von: Gerhard Mussel, Jürgen Pätzold

Verlag Franz Vahlen, 2013

ISBN: 9783800643745 , 300 Seiten

8. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,99 EUR

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Grundfragen der Wirtschaftspolitik


 

1A. Aufgabenbereiche der Wirtschaftspolitik in der Marktwirtschaft


I. Das System der marktwirtschaftlichen Selbstregulierung


1. Kennzeichen eines marktwirtschaftlichen Systems


Wie kaum ein anderer Bereich ragt das Wirtschaftsleben in den menschlichen Alltag hinein. Die Ausübung eines Berufs, der Gebrauch und Verbrauch von Gütern oder Entscheidungen über Geldanlagen – insbesondere in Zeiten krisenhafter Entwicklungen innerhalb des Eurosystems oder globaler Krisen einerseits und inflatorischer Entwicklungen andererseits – bilden nur wenige Beispiele für das äußerst vielfältige Wirtschaftsleben. Die Gesamtheit aller wirtschaftlichen Vorgänge nennt man den Wirtschaftsprozess. Er ist in einer Volkswirtschaft das Ergebnis millionenfacher Einzel- bzw. Gruppenentscheidungen, hinter denen als Träger die Wirtschaftssubjekte stehen.

Das Kernproblem dieses komplexen Wirtschaftsprozesses bildet dessen Koordination. Es geht dabei letztlich um die Abstimmung der Konsumpläne von Haushalten sowie der Produktionspläne von Unternehmungen. Die Wirtschaftswissenschaften bieten zur Lösung dieses Koordinationsproblems zwei idealtypische Wege an: Entweder erfolgt die Organisation der Wirtschaft zentralverwaltungswirtschaftlich (zentralplanwirtschaftlich) oder aber über dezentrale Entscheidungen, d. h. marktwirtschaftlich. Bekanntlich trifft man diese Koordinationsmodelle in den real existierenden Wirtschaftssystemen nirgends in „Reinform“ an. Vielmehr handelt es sich dabei um Mischformen, in denen bestimmte Elemente des einen oder anderen idealtypischen Systems dominieren.

Bei der Zentralverwaltungswirtschaft handelt es sich um eine zentral gelenkte Volkswirtschaft. Die zentrale Planungsbehörde trifft sämtliche für die Güterproduktion relevanten Entscheidungen. Hierzu zählen insbesondere Vorgaben über Niveau und Struktur der Produktion, Zeitvorgaben, anzuwendende Technologien sowie die Festlegung der zum Einsatz vorgesehenen Betriebe, die sich konsequenterweise im Eigentum der zentralen Planungsbehörde befinden müssen (i. d. R. Staatseigentum). Die Verteilung der Produktion erfolgt über die Verteilung von Einkommen, die zugleich Ansprüche auf Güter darstellen.

Um all diese Daten festzulegen, würde die Lenkungsinstanz ein perfektes Informationssystem benötigen. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass die zentralen Instanzen in einer Planwirtschaft nicht über die erforderlichen Informationen verfügen. Die Folge ist eine unzureichende Steuerungsfähigkeit des Systems. Da in der Zentralverwaltungswirtschaft Märkte und Anreizmechanismen fehlen, ist dieses System durch eine im Vergleich zu „westlichen“ Volkswirtschaften geringe Effizienz gekennzeichnet. Wie die Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheit 2belegen, sind die bisher installierten Planwirtschaften nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen gescheitert.

Kennzeichnend für das Funktionieren einer idealtypischen Marktwirtschaft ist das Fehlen einer staatlichen Planungsinstanz. Die Wirtschaftssubjekte erstellen unabhängig voneinander ihre individuellen Wirtschaftspläne. Voraussetzung für die freie Individualplanung der Produktion ist das Privateigentum an den Produktionsfaktoren. Die Koordination der Wirtschaftspläne findet nicht über zentrale Befehle statt, sondern ausschließlich über Märkte. Hier treffen Angebot und Nachfrage aufeinander. Für den Ausgleich sorgt die freie Preisbildung.

Damit kommt dem Preismechanismus die entscheidende Bedeutung in einer Marktwirtschaft zu. Er liefert den Marktteilnehmern die erforderlichen Kenntnisse über relative Knappheiten von Gütern bzw. Produktionsfaktoren (Informationsfunktion). Daraus ziehen die Unternehmen entsprechende Schlüsse und passen ihre Produktionspläne den sich ändernden Marktsignalen an. Änderungen der Preisverhältnisse, also der relativen Preise, bewirken eine Umstrukturierung der Produktion. Die Produktionsfaktoren werden in die von den Nachfragern gewünschte Verwendung gelenkt. Der Preismechanismus übernimmt sozusagen die Rolle eines „Verkehrsleitsystems“ für die Produktionsfaktoren. Dies ist die Allokationsfunktion der Preise. Schließlich übernehmen Preise auch eine Sanktionsfunktion. Leistungsstarke Anbieter erhalten über höhere Preise eine Belohnung in Form eines Gewinns, leistungsschwache Anbieter werden durch Verluste bestraft. Der Preismechanismus wirkt quasi für die Unternehmen wie „Zuckerbrot oder Peitsche“. Die Gewinnanreize sind zugleich wesentliche Triebfeder für technische und organisatorische Fortschritte.

Die Funktionsweise der Marktwirtschaft erfordert ein System individueller Freiheiten. Dies gilt sowohl im ökonomischen als auch im politischen Sinne. Aus ökonomischer Sicht bedarf es neben des Privateigentums vor allem der Vertrags- und Gewerbefreiheit. Unter politischem Aspekt plädieren Marktwirtschaftler für eine Demokratie, da dieses gesellschaftliche System am ehesten dazu geeignet ist, persönliche Freiheiten zu garantieren. Marktwirtschaft und Demokratie bedingen sich daher gegenseitig.

Basis des marktwirtschaftlichen Systems ist die Mitte des 18. Jahrhunderts geborene sozialphilosophische Idee des klassischen Liberalismus. Der englische Liberalismus forderte vor allem auf Grund des berühmten Werkes von Adam Smith („Wealth of Nations“) die Hinwendung zu einem freiheitlichmarktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem. Nach dieser Auffassung stehen einzel- und gesamtwirtschaftliche Ziele keineswegs in Konkurrenz zueinander – im Gegenteil: Das individuelle Streben nach Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung (sog. „Utilitarismus“) führt – so die Überzeugung der Klassik – zugleich zur Maximierung des gesamtwirtschaftlichen Nutzens und damit zu einem höchstmöglichen „Wohlstand der Nationen“; Voraussetzung sind allerdings funktionsfähige Märkte.

Die klassischen Nationalökonomen wiesen dem Staat nur begrenzte wirtschaftspolitische Aufgaben zu. Sie waren der Überzeugung, dass die „unsichtbare Hand“ des Wettbewerbs staatliche Interventionen überflüssig machen 3würde. Die Aufgabe des Staates wurde lediglich darin gesehen, die für die Funktionsweise des Systems erforderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen (Ordnungspolitik), um sicherzustellen, dass sich der freie Wettbewerb auch voll entfalten kann. Ansonsten sollte sich die öffentliche Hand in wirtschaftspolitischer Hinsicht weitgehend neutral und insoweit als „Nachtwächterstaat“ verhalten.

Die wirtschaftliche Entwicklung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bestätigte die Hoffnungen, die man mit dem Selbststeuerungssystem „Markt“ verband: Die gesamtwirtschaftliche Produktionsleistung expandierte in bisher unbekanntem Ausmaß. Der Beleg für die Überlegenheit einer Wettbewerbswirtschaft gegenüber den bisherigen Wirtschaftsordnungen war damit erbracht. Im Zuge der Industrialisierung wurden im Wege der Schaffung neuer Sachkapazitäten die Angebotsmöglichkeiten in den marktwirtschaftlich strukturierten Volkswirtschaften stark erhöht. Es gelang in großem Ausmaß, bestehende Engpässe infolge begrenzter Verfügungsmöglichkeit über die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zu beseitigen und ungeahnte Leistungsreserven zu mobilisieren. Das Problem einer „resource constraint economy“ war damit weitgehend gelöst.

2. Funktionsschwächen der freien Marktwirtschaft


Unbeschadet dieser wirtschaftlichen Prosperität kam es jedoch auch zu Fehlentwicklungen. Verantwortlich hierfür war in erster Linie der Staat selbst. Er hatte auch nach klassisch-liberaler Auffassung die Aufgabe, das Marktsystem zu erhalten und zu korrigieren. Dieser Aufgabenstellung kam er jedoch nur unzureichend nach. Die Fehlentwicklungen lassen sich auf drei Problemkomplexe reduzieren:

  • das Problem der zunehmenden „Ineffizienz der Marktwirtschaft“ infolge von Kartellbildungen und Monopolisierungstendenzen,
  • das Problem der „Inhumanität der Marktwirtschaft“ infolge einer als ungerecht empfundenen Einkommens- und Vermögensverteilung, und
  • das Problem der „Instabilität der Marktwirtschaft“ infolge von Konjunktur- und Strukturkrisen.

Diese Problembereiche sollen im Folgenden etwas genauer skizziert werden.

Ineffizienzen können in einer sich selbst überlassenen Marktwirtschaft vor allem dadurch auftreten, dass der Wettbewerb infolge von Monopolisierung und Kartellierung beeinträchtigt wird. Sie bedeuten eine Gefährdung des marktwirtschaftlichen Systems schlechthin, das ja auf der Funktionsfähigkeit des Preis- und Wettbewerbsmechanismus basiert. Infolge einer wettbewerbspolitischen Zurückhaltung des Staates im klassischen Liberalismus und der immanenten Kartellierungs- und Monopolisierungstendenzen wurde der Allokations- und Anreizmechanismus „Markt“ zunehmend außer Kraft gesetzt. Dabei begünstigte auch ein einseitig interpretiertes Recht auf Privateigentum die Bildung von Kartellen und das Entstehen wirtschaftlicher Macht. Folge der wirtschaftspolitischen Zurückhaltung des Staates war die Kartellierungs- und 4Monopolisierungswelle der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und die Aushöhlung des Wettbewerbssystems. Der klassische Liberalismus degenerierte mehr und mehr zum Kartell- und Monopolkapitalismus. Es ist daher in der Marktwirtschaft unzweifelhaft Aufgabe des Staates, durch eine entsprechende Wettbewerbspolitik dafür Sorge zu tragen, dass das Marktsystem funktionsfähig bleibt.

Obwohl die ökonomischen Erfolge der Marktwirtschaft in Gestalt einer stark gestiegenen Produktion...