Hirnströme - Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie

von: Cornelius Borck

Wallstein Verlag, 2013

ISBN: 9783835325166 , 384 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 26,99 EUR

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Hirnströme - Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie


 

ELEKTRISIERENDE HIRNBILDER


»Dunkelkammer der Psychiatrischen Klinik in Jena. Doppeltüren schließen den Raum schalldicht von der Umwelt ab. Eine bahnbrechende Entdeckung soll ausprobiert werden, die Professor Dr. Hans Berger, dem Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Jena, gelungen ist. Es handelt sich um die Aufzeichnung der Gedanken in Gestalt einer Zickzack-Kurve, um die elektrische Schrift des Menschenhirns.«1 Die Kurve der Hirnströme, die Registrierung der elektrischen Aktivität des menschlichen Gehirns im Elektroenzephalogramm, war eine Sensation. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt hatte eine Technik von geradezu wunderbaren Eigenschaften möglich gemacht. Dabei handelte es sich weder um eine Erfindung zur Erleichterung des Alltagslebens noch um ein neues Unterhaltungsmedium, nicht einmal ein medizinischer Nutzen war absehbar. Vielmehr versprach die Technik wissenschaftliche Aufklärung über einen ganz besonderen Aspekt des menschlichen Lebens: das Denken. »Man vergegenwärtige sich: ein Mensch sitzt über einer Rechenaufgabe; Drähte führen von seinem Gehirn in einen anderen Raum zu einem Registrierapparat. Hier sieht man nichts weiter als das Zickzack, das ein Zeiger auf einem Papierstreifen aufzeichnet, und doch weiß man genau, wann der Mann im Nebenzimmer zu rechnen begonnen hat, ob ihn die Arbeit sehr anstrengt und wann er mit der Rechnung zu Ende ist.« Das buchstäblich fantastische Potential der Erfindung, die 1930 offenbar gut zum zeitgenössischen Erwartungshorizont paßte, lud zu einander überbietenden Spekulationen ein: »Heute sind es noch Geheimzeichen, morgen wird man vielleicht Geistes- und Hirnerkrankungen aus ihnen erkennen und übermorgen sich gar schon Briefe in Hirnschrift schreiben.« Im Moment der Erstbeschreibung zirkulierten die Zacken der Kurve als »Geheimzeichen« einer neuen Sprache, deren Entschlüsselung unmittelbar bevorzustehen schien – mit weitreichenden Konsequenzen für das Selbstverständnis des Menschen.

Diese Vision ist nicht in Erfüllung gegangen. Hans Berger dürfte einer der ganz wenigen gewesen sein, die bisher einen Hirnstrombrief bekommen haben. Zu Weihnachten 1938 sandte ihm sein amerikanischer Kollege Herbert H. Jasper eine solche Nachricht. Auch ein in der Elektroenzephalographie nur wenig geübter Empfänger konnte in diesem seltenen Beispiel lesen, wie das Gehirn des Absenders zunächst vergleichsweise langsame Wellen produzierte, sich also wohl in einem Ruhezustand befand, bevor eine kurze Phase kleinerer Schwankungen in der zweiten Linie eine deutliche Aktivierung verriet, aus der sich deutlich lesbare Zeichen formten, bis schließlich in der letzten Zeile aus den Aktivierungswellen wieder langsamere Schwingungen wurden. (Abb. 1) Bergers Hirnstromkurven waren 1930 zwar als »elektrische Schrift« gefeiert worden, aber diesen geradlinigen Weg einer Einschreibung von Sinngehalten in die Zackenmuster hat die Arbeit an den Kurven offenbar nicht genommen. Überhaupt sollte es einige Zeit dauern, bis sich Bergers wissenschaftliche Kollegen ernsthaft für die Hirnströme und die neue Methode ihrer Registrierung zu interessieren begannen. Die bisweilen recht fantastischen Zeitungsberichte hatten bei kritischen Lesern sicher eher Skepsis ausgelöst, zumal sich ähnliche Sensationsberichte bisher immer als Scharlatanerie herausgestellt hatten. Selbstverständlich wußte man um die zentrale Rolle von elektrischem Strom in der Funktionsweise des Nervensystems seit den großen Erfolgen der Elektrophysiologie im 19. Jahrhundert. Aber gerade in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg hatte sich die Neurophysiologie darauf verlegt, immer präziser die elektrische Aktivität einzelner Nervenfasern und Nervenzellen zu charakterisieren. Welchen Sinn sollte es da machen, von Tausenden von Nervenzellen im Gehirn des Menschen eine Kurve ihrer Gesamtaktivität zu schreiben, zumal doch jedem Hirnareal eine ganz spezifische Funktion zuzusprechen war? Wenn Berger in seinen Veröffentlichungen schon selbst von Schwierigkeiten und Störungen schrieb, lag es viel näher, die ganze Sache für ein Artefakt zu halten.

Damit aus den Hirnströmen ein Gegenstand wissenschaftlicher Experimente werden konnte, mußten sie im Ausgang von vorhandenen Forschungskulturen anschlußfähig gemacht werden. Hier brachte die Bestätigung von Bergers Befunden durch den englischen Nobelpreisträger Edgar Douglas Adrian 1934 den Durchbruch. Das Elektroenzephalogramm (EEG), die Kurve der Hirnströme, wurde zur wissenschaftlich anerkannten Tatsache.2 Von diesem Moment an begannen EEG-Kurven und Hirnströme eine Reihe ernster Fragen zu stellen, einerseits gerade weil sie schlecht zum Wissen über die elektrische Aktivität einzelner Nervenzellen paßten, andererseits weil die Kurvenmuster eine auffällige Korrelation zu psychischen Prozessen zeigten. Vor allem in Amerika spezialisierten sich rasch etliche Forschungsgruppen auf die neue Methode und produzierten als »brain-wave factories« EEG-Registrierungen am laufenden Meter. Als wenig später auch noch eindeutig pathologische Kurvenmuster gefunden wurden, mit denen sich eine Reihe von Hirnerkrankungen mit bis dahin nicht gekannter Präzision diagnostizieren ließen, steigerte dies die Anwendung der neuen Methode weiter. Aber je mehr Kurven geschrieben wurden, je länger an der Entzifferung der Zacken im EEG gearbeitet wurde, um so hartnäckiger widersetzten sie sich einer Dechiffrierung und Einpassung in physiologische oder psychologische Theorien.

Abb. 1: Grußkarte in Hirnschrift von Herbert H. Jasper an Hans Berger zu Neujahr 1938.

Die Geschichte der Hirnströme stellt sich vielmehr als eine Abfolge weitgehend frustraner Versuche ihrer Entzifferung dar. Berger scheiterte an dem Versuch, spezielle Zeichen geistiger Arbeit dingfest zu machen. Die Kartographie der »Eigenströme« einzelner Hirnrindenareale am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch war nur so lange ein stabiles Projekt, wie sie sich strikt entlang des cytoarchitektonischen Forschungsprogramms von Oskar Vogt orientierte. Als Adrian mit dem EEG im Gehirn so idiosynkratische Rhythmen fand, daß sie die etablierten Theorien der Neurophysiologie zu unterminieren drohten, wechselte er vorsichtshalber wieder das Forschungsfeld. Jasper manövrierte sein Experimentalsystem, das eben noch schöne Weihnachtsgrüße generiert hatte, bei dem Versuch in eine Sackgasse, die Kurven und Zacken des EEG exakt an elektrophysikalischen und zellulären Prozessen auszurichten. Grey Walter hoffte, mit immer raffinierteren Visualisierungstechniken der Komplexität des EEG beizukommen, und landete statt beim elektrischen Gehirncode im Maschinenpark. Nach Ende des 2. Weltkriegs bündelte die Kybernetik für einige Jahre die Arbeit am EEG, und es schien, als gelinge mit der Konstruktion elektrischer Gehirne und psychischer Automaten ein Durchbruch. Dennoch blieben die neurophysiologische Genese und die psychophysiologische Bedeutung der Hirnströme, die das EEG so regelmäßig aufzeichnete, weiterhin umstritten.

Heute wird kaum noch im konventionellen EEG, wie es Berger der Öffentlichkeit vorgestellt hat, nach einem Schlüssel zur Funktionsweise des Gehirns gesucht. Die »decade of the brain«, das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, forcierte einen schon bestehenden Trend zu anderen Visualisierungsstrategien. Computer mit immer besseren Rechenleistungen konnten nun nicht nur menschliche Schachweltmeister bezwingen, sie filterten auch einzelne Zwischenschritte spezifischer Signalverarbeitungsprozesse aus den EEG-Kurven heraus. Die Neurophysiologie stieß mit der Identifizierung von Schleusenmechanismen an einzelnen Ionenkanälen immer tiefer in molekulare Dimensionen vor. Ihre größten Triumphe feierte die Hirnforschung in diesen Jahren sicher mit der Wiederbelebung von zwischenzeitlich längst für überholt erklärten morphologisch-topographischen Modellen. Neue Visualisierungstechniken konstruierten Bilder vom »Geist bei der Arbeit«,3 in denen die funktionell aktiven Areale des Gehirns nicht mehr Kurven schrieben, sondern als Aktivitätszonen aufleuchteten. Die Abkehr vom Paradigma der elektrischen Hirnschrift und das Revival der Lokalisationslehre schlugen sich auch in der Namenspolitik der Fachgesellschaften und Kongresse nieder, die in diesem Jahrzehnt ihren Gründungsnamen EEG fortfallen ließen, um den Anschluß an aktuellere Forschungsrichtungen nicht zu verlieren.4 Der zumeist gewählte neue Titel »Klinische Neurophysiologie« dokumentierte mehr als nur die gewachsene Distanz zur Grundlagenforschung. Die Absage an das EEG oder die Elektroenzephalographie sollte die alte Kurvenschreiberei in einen umfassenden Zusammenhang interdisziplinärer Forschungsmethoden aufgehen lassen, zugleich aber stutzte sie insgeheim die Erwartungen, die sich an ein solches Unterfangen legitimerweise stellen ließen: Heute wird vom Gehirn des Menschen keine Schrift aufgezeichnet; es gibt hier keine Aussicht mehr auf eine authentische Schrift, sondern nur noch Physiologie. Die Änderung des Namens dokumentiert so etwas wie die Rücknahme eines ungedeckten Wechsels, der lange auf das Versprechen der Elektroenzephalographie gezogen wurde, hier werde mit technisch objektiven Mitteln das Geheimnis der Seele...