Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

von: Volker M. Heins

Campus Verlag, 2013

ISBN: 9783593421544 , 205 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

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Preis: 17,99 EUR

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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus


 

Einleitung: »Multikulti« - zwanzig Jahre später

Dass Vielfalt eine gute Sache ist, scheint unumstritten zu sein. Die Frage ist nur: Vielfalt wovon? Wir können kaum genug bekommen von der Vielfalt an sinnlichen Reizen in Gestalt von Konsum, Kunst oder kulinarischen Angeboten. Dasselbe gilt für die biologische Vielfalt der Arten, die durch ein eigenes Abkommen der Vereinten Nationen geschützt wird. Schwieriger wird es, wenn wir über kulturelle Vielfalt sprechen. Mehrheitsfähig ist in Deutschland bisher nur das, was der amerikanische Intellektuelle Stanley Fish als »Boutiquen-Multikulturalismus« bezeichnet hat: die kulturelle Vielfalt ethnischer Restaurants, Moden und Reiseziele (Fish 1997). Das Fremde muss genießbar, verdaulich und möglichst auch käuflich sein, um nicht Schrecken und Abwehr hervorzurufen. »Vielfalt« ist das Mantra einer zwar freien, aber auch den Konformismus begünstigenden Gesellschaft.

Ein gutes Beispiel für die Schwierigkeit unserer Gesellschaft, mit Vielfalt und Differenz umzugehen, ist der jüngere Streit um die Beschneidung von Jungen. Tatsächlich hat diese alte rituelle Praxis, die eng mit identitätsstiftenden Glaubensinhalten des Judentums und des Islam verknüpft ist, für ganz unangemessen großes Aufsehen gesorgt. So wertete das Landgericht Köln im Mai 2012 in einem viel beachteten Urteil die religiös motivierte Beschneidung der Vorhaut eines minderjährigen muslimischen Jungen als rechtswidrige Körperverletzung. Für kurze Zeit blieb dieses Urteil ein Teil der profanen Welt, formuliert in der Sprache der Juristen und nüchterner Zeitungsmeldungen. Bald darauf jedoch brach eine rasch um sich greifende, hoch emotionale Debatte über den Charakter und die Zulässigkeit eines solchen Eingriffs aus. Die »Beschneidungsdebatte« signalisierte, dass dieses Thema die Kraft hatte, die deutsche Gesellschaft in ihrem Kern zu berühren und aufzuwühlen. Wie in längst vergangen geglaubten Zeiten schienen sich plötzlich große Teile des Publikums bedroht zu fühlen durch etwas Dunkles, Blutiges, Außereuropäisches. Vordergründig stand im Mittelpunkt dieser Debatte der Begriff des Kindeswohls, der in einen Gegensatz gebracht wurde zur Religionsfreiheit von Muslimen und dann natürlich auch von Juden, deren religiöse Tradition ebenfalls die Beschneidung von Jungen vorschreibt und etwa zur Voraussetzung der Teilnahme am Pessachfest macht. Angefeuert von Meinungsumfragen, die schnell zeigten, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter ihnen steht, nutzten zahlreiche Ärzte, Psychologen, Journalisten und sogenannte Islamkritiker das Gerichtsurteil für die Zwecke eines Kulturkampfs gegen die aus ihrer Sicht überholten, irrationalen oder sogar verfassungsfeindlichen Praktiken bestimmter religiös-kultureller Minderheiten. Anstatt mit Juden und Muslimen zu sprechen, sprach man über sie. Und ganz erstaunlich war die ungetrübte Gewissheit weißer, europäischer, unbeschnittener Männer, auf der Seite der Wissenschaft, der Humanität, des Fortschritts und aller Werte zu stehen, mit denen Europa seit der Vernichtung der Azteken durch Hernán Cortés den Rest der Welt beglückt hat.

Die Ironie dieses in allen Medien und Formaten zelebrierten Selbstvergewisserungsrituals des modernen Deutschlands bestand darin, dass es selbst etwas Archaisches und Tribales an sich hatte. Der große französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss hat einmal beiläufig vom »Skandal der Vielfalt« gesprochen, der seit jeher die menschlichen Gesellschaften aufschreckte, wenn sie mit kulturellen Abweichungen konfrontiert wurden:

»[...] die Vielfalt der Kulturen ist den Menschen selten als das erschienen, was sie ist: als natürliches Phänomen, das aus den direkten und indirekten Beziehungen der Gesellschaften resultiert. Sie sahen darin eher eine Art von Ungeheuerlichkeit oder Skandal. Schon in ferner Vorzeit veranlasste eine Neigung, die so fest verankert ist, daß man sie für instinktiv halten könnte, die Menschen dazu, Sitten, Glaubensvorstellungen, Bräuche und Werte, die von denen in ihrer eigenen Gesellschaft geltenden am meisten entfernt sind, schlicht und einfach zu verwerfen [...]. Damit weigert man sich, die kulturelle Vielfalt anzuerkennen.« (Lévi-Strauss 2012: 122)

Moderne Gesellschaften, so möchte ich ergänzen, sind darüber hinaus durch eine widersprüchliche Tendenz gekennzeichnet. Einerseits weisen ihre Denksysteme die Teilung der Menschheit in Zivilisierte und Barbaren selbst als barbarisch zurück. Es gibt eine statistisch erfassbare Tendenz zur Relativierung jener kulturellen Überlegenheitsgefühle, die sich in den hitzigen Debatten um Beschneidung, Kopftücher usw. regelmäßig austoben.1 Andererseits neigen dieselben Gesellschaften dazu, durch staatliche Erziehung, umfassende Verrechtlichung, Massenmedien und Expertenherrschaft die Homogenisierung der Sitten, Gewohnheiten, Hoffnungen und Ängste ihrer Mitglieder noch weiter zu treiben als manche vorindustrielle Gesellschaften. Dadurch werden selbst geringe Abweichungen, die Einwanderer und andere »Fremde« kennzeichnen, leicht zum Gegenstand von Stereotypen und negativen Klassifikationen.