Besonnte Vergangenheit

von: Karl Ludwig Schleich

Jazzybee Verlag, 2012

ISBN: 9783849635350 , 273 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 0,99 EUR

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Besonnte Vergangenheit


 

 


Wenn eine Erinnerungsschrift nichts ist als eine Revue von Spiegelbildern, welche sich in der Seele des Biographen besonders plastisch, hell besonnt, verdichtet und erhalten haben, gewissermaßen mit dem kostbarsten Konservierungsmittel der Seelenphotographie: der Dankbarkeit, fixiert sind, so darf in dieser Reihe schöner Reflexe eine Gestalt nicht fehlen, die mir von dem Bilde meines Vaters und meiner ganzen Lebenszeit bis in das Jahr 1906 hinein unzertrennbar erscheint: Onkel Boysen. Das war ein Kollege meines Vaters in Stettin, unser Familien-Onkel-Doktor, ein Arzt, der seit vielen Jahren mit meinem Vater zusammen in Stettin als dessen bester Freund wirkte und von einer Originalität war, wie man sie eben nur in Provinzstädten trifft. Der Dioskur meines Vaters. Ein Mann von hoher, imponierender Gestalt, von der stolzesten Körper- und Kopfhaltung, die man sich denken kann, mit breiter Brust, großen, markigen Friesenhänden. Ein König-Hakon-Kopf, wirklich schön geschnitten, mit großem, hellblauem Auge, eine srithjosartige Erscheinung! Nordisch jeder Zoll dieser Bardengestalt. Den Kopf umrahmte ein stets wohlgepflegtes und vollgeringeltes, rotblondes Lockenhaar, rotblond in jungen Jahren, später von jenem seinen Graublond, wie man es an alten Goldfiligranen findet. Ein Lohengrinbart um das kräftige, freie, kühne Gesicht. Wie aus königlichem Geblüt war der Mann, der uns alle auf den Knien geschaukelt hat und uns mit seinen nie vergessenen Festgeschenken entzückte. Er war auch fürstlicher Abkunft, wie er in höchst drolligem Ernst und mit einer gewissen Resignation, mit Humor und komischer Wehmut gemischt, immer wieder, manchmal sogar trotzig, behauptete. »Ihr könnt es mir glauben, ich stamme aus dem dänischen Königshause! Wenn's gerecht in der Welt zuginge, säße ich jetzt auf dem dänischen Thron. Die Beweise sind alle in meiner Hand. Da ist gar kein Zweifel.« Sein einziger, mir erinnerlicher Beweis war, daß man ihn in Helgoland, seinem alljährlich im Sommer aufgesuchten Erholungsort, allgemein »vom Bootsjungen bis zum Hotelier« Königl. Hoheit oder Prinz von Dänemark seit Jahrzehnten tituliere. Man wußte nicht, scherzte er oder meinte er es ernst, wenn er sich dabei pathetisch seinen schönen Backenbart hinabstreichelte, gleich als liebkose er sein hohes Geschlecht. Als er mir das zum ersten Male erzählte, ich war Student, hätte ich ihm beinahe ins Gesicht gelacht, aber er sah dabei mit dem Habitus eines vollendeten nordischen Recken so wundervoll aus, daß vor dem wahrhaften Adel dieser Gestalt jeder Hohn verstummte. Wahrhaftig, der Mann konnte recht haben, so hochgeboren schien sein Mannestum, und eine leuchtende Würde war um ihn, liebenswürdig gedämpft durch einen seinen Zug von Selbstironie, so daß man unwillkürlich in den Bann seiner augenscheinlich tiefinnerlichen Königsträume hineingesponnen wurde. Ich und mein Vater nicht weniger, der stets mit einer brüderlich innigen Schonung diesen seinen »Dollpunkt« behandelte, und, wenn man ihn befragte, immer leise lächelnd sagte: »Ja, wer weiß, er behauptet es ganz ernsthaft und – sieht er nicht wirklich so aus?« Dabei pendelte dieser Dänenprinz, als einfacher praktischer Arzt in seinem, von traurigstem Rößlein gezogenen Doktorwagen in Stettin gleich meinem Vater hin und her, mild, groß, freundlich, beide gleich unermüdlich opferfreudig, die echten alten, guten Hausärzte, die noch etwas mehr waren, als die technischen Installateure der Hygiene des einzelnen, wozu die Aerzte die moderne Zeit gestempelt hat. Sie waren Priesterärzte, ebenso hilfreich den Familien als Seelenfreunde beigegeben, Beichtväter, Felsvertraute, Waldeshütten-Verschwiegene, Zufluchtsstätten, Asyle der Bekümmerten und Beladenen. Es hatte für mich etwas Rührendes und Bewegendes, diese beiden auf Menschenwohltun verschworenen Berufsbrüder sich etwa in ihren niedrigen Kutschwagen auf der Straße begegnen zu sehen, sich mit den Händen herzlich aus den niedrigen Wagenfenstern begrüßend, jeder wissend von des anderen mühsamer Plackerei des Tages, den ganzen Rummel der Privatpraxis bis ins Tz kennend, und doch immer wieder sich einspannend in ihr liebgewordenes Joch, wie ihre alten Schimmel jeden Morgen an der abgeschabten Deichsel. Oder sie sich treffen zu sehen an den Marktecken, und Onkel Boysen, meinen Vater unter den Arm fassend, seufzen zu hören: »Weißt du, Carl, ich habe da einen Fall, – es ist zum Heulen! Wird und wird nicht. Was würdest du da nu machen?« Ja, das war eine Kollegialität des Herzens, kein Schatten von Rivalismus (außer einem sehr lieben und graziösen, von dem ich gleich noch reden will), keine Spur von Neid. Jeder jedem die Fülle allen Erfolges willig gönnend und dabei der »Sproß aus dem Königshause« noch wie ganz selbstverständlich die höhere Geistigkeit meines Vaters mit großer, seltener Innigkeit bewundernd und gleichsam wie sein eigen Verdienst betonend. Es war jedesmal eine Feststunde, wenn er, nach einer Knieverletzung leicht hinkend und immer einen wundervollen Stock mit goldener Krücke grüßend uns Kindern entgegen schwenkend, dann zu uns kam und sich seine langen schwarzen Rockschöße (er ging immer wie eine Majestät in Zivil pikfein gekleidet) von uns entleeren ließ, immer mit dem passiven Gehabe eines Geplünderten und der knurrenden Bemerkung: »Gebt euch bloß keine Mühe. Is nichts drin!« Dabei war er bis in die Brusttaschen voll mit Düten für uns bespickt. Ein immer heiterer, musengeküßter Junggeselle, dem nichts abging, der sehr gut lebte in seiner Junggesellen-Einsamkeit und ein großer Frauenfreund war. Mein Vater behauptete, er werde schwärmerisch von einem Amazonenheer schöner Frauen geliebt; freilich behauptete er von meinem Vater ähnliches. Ich glaube nicht, daß es in ihren Geheimarchiven für sie beide irgendwelche Verstecke gab. So waren sie beide miteinander groß geworden als respektierte Aerzte der Stadt, hatten ihre L'hombre-, Whistabende und wissenschaftliche Kränzchen gemeinsam, präsidierten beide umschichtig der Medizinischen Gesellschaft und verschmolzen allmählich so innig all ihre Interessen und Begebenheiten, daß sie in höherem Alter ihr biographisches Mein und Dein sogar völlig verwechselten. Ja, sie stahlen sich direkt ihre Geschichten. Es war mehr als drollig, die beiden damals schon hochbetagten Greisenköpfe, mein Vater mit der mehr gesträhnten weißen Mähne, der dänische Kronprätendent mit mehr in gerollten Wellen fallendem dichten Lockenhaar, beieinander hocken zu sehen und nun den einen beginnen zu hören: »Weißt du noch die Geschichte mit dem alten Lohme, wie der sich in 'ner Wassertonne auf seinen Hof badete, wie der Spund absprang und nun gewisse edle Teile sich im Spundloch mit dem abströmenden Wasser ansaugten und die Mägde sich weigerten, die nußbraunen Vorgequollenheiten zu reponieren? 's war 'ne Art skrotaler Inkarzeration!! Ha, ha!« Dann sagte der andere entrüstet zu mir, dem sie als jungen Kollegen solche Sachen erzählten: »'s ist nämlich meine Geschichte! Er hat den alten Lohme gar nicht behandelt, bei dem ich dreißig Jahre Hausarzt war!« Oder einer erzählte: »Da war nämlich mal auf'm Hof bei Scheiberts, wo du geboren bist, eine alte Frau in den Spülstaschenbehälter gefallen und hatte sich eine halbe Buddel in den Leib gespießt!« – »Da hört sich doch alles auf!« sagte der andere. »Das ist doch meine Geschichte!« Darauf oft lange Kontroversen, ohne daß einer den andern überzeugen konnte, daß er Eigentumsrecht besaß an dieser Fülle von Schnurren, die eine jahrzehntelange Praxis als Arzt und Seelsorger gezeitigt hatte. Denn ihr Blick für Humor war gleich stark, ihre Komik hatte eine gleiche Marke, und sie reagierten auf die Drolligkeiten des Lebens und die kleinen Schwächen ihrer Mitmenschen scharf wie Reagenzpapier, was vielleicht die Begabung für Humor überhaupt ausmacht: die Fähigkeit, ihn überall auch bei den seriösesten Gelegenheiten zu wittern wie einen spezifischen Situationsduft. Die Humoristen verstehen mit einem Augenblick sich über ganze Romane von Komik zu verständigen. So waren die beiden auch. Ihre gemeinsame Anwesenheit in irgendeiner Gesellschaft, und sei es bei einem Begräbnis, wurde stets der Ausgangspunkt allerentzückendsten Ideenaustausches. Sie hatten eben »alles« gesehen. Einst kam ihre gegenseitige Erinnerungs-Verwechslung höchst komisch zutage. Mein Vater feierte sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum und hielt eine sehr schöne Rede, die er folgendermaßen begann:

 

»Meine Herren! Mein Freund Justinus Kerner, den ich von Bonn her persönlich kannte, hat einmal gesagt: Das Interessanteste am Licht ist der Schatten, und hat damit so recht eigentlich das gesagt, was ich an meinem heutigen Feste ausdrücken möchte. Der Schatten, den das Alter mitschleppt, macht erst unser Leben farbig und bunt, wie nach der Goetheschen Theorie –« und führte diesen hübschen Gedanken in seiner weichen, sinnigen Weise höchst anmutig durch. Danach erhob sich Onkel Boysen, schlug ans Glas und sagte: »Liebe Kollegen und Festgenossen! Mein alter Weiser an meinem, wie Sie ja alle wissen, freiwillig aufgegebenen Fürstenthron, Carl Ludwig, hat soeben von Justinus Kerner, unserem hochbegnadeten Kollegen und Dichter und Mystiker, als von seinem Freunde gesprochen. Ich muß da leider eine kleine Korrektur eintreten lassen. Kollegen Schleich ist, wie so oft, dabei eine kleine Verwechselung passiert mit meinen Erlebuissen. Justinus Kerner war nämlich mein Freund, er hat ihn nie gesehen. (Lebhafter Protest seitens meines Erzeugers.) Beruhige dich, lieber Carl! Es ist so. Außerdem hat er nicht gesagt: Das Interessanteste am Licht ist der Schatten, sondern sein Satz lautete: Was sollten wir mit dem Licht allein anfangen, wenn Gott ihm nicht den...