Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz

von: Samy Molcho

Ariston, 2010

ISBN: 9783641047245 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz


 

Als Sie dieses Buch zur Hand genommen haben, geschah dies wahrscheinlich aus einem inneren Impuls von Neugierde oder auch in der Hoffnung, eine Antwort auf den ewigen Konflikt zwischen Nähe und Distanz zu erhalten. Die endgültige Antwort habe ich vielleicht auch nicht, hoffe aber, dass es mir gelungen ist, den richtigen Lichtschalter zu betätigen, damit dieses Lebensphänomen in hellerem Licht erscheint.
Zunächst geht es darum, zwischen einfachen geometrischen Messungen von Nähe und Entfernung von Gegenständen und der komplexen Welt der Gefühle zu unterscheiden, aus der sich die menschliche Beziehung von Nähe und Distanz definiert. Gefühle wirken nach innen und über unseren Körper nach außen und aktivieren ihn. Dementsprechend wirken unsere körpersprachlichen Signale wie Leuchttürme zur Orientierung in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Anders als in meinen früheren Büchern, in denen ich hauptsächlich die äußeren Signale von Körpersprache beschrieben habe, führt der Weg dieses Buches von innen nach außen. Der Blick richtet sich also zuerst nach innen. Unser Alltag ist von diesem Pendelschlag zwischen innen und außen geprägt. Er bestimmt unsere Beziehung zwischen Innen- und Außenwelt, privat wie sozial, beruflich und in unseren eigenen Gedanken.
Wir bewegen uns ständig auf dieser Schaukel. Also schaukeln wir hier einmal gemeinsam und genießen wir Spannung und Erleichterung, Höhen und Tiefen! Sie, liebe Leserin und lieber Leser, werden mir manchmal nahekommen und anschließend vielleicht auf Distanz gehen. Ganz wie im richtigen Leben auch hier im Buch, und zwar durch das Wort.
Ihr Samy Molcho

Einführung - Über Nähe und Distanz

Nähe und Distanz spielen eine entscheidende Rolle in unser aller Leben, unerschöpflich in ihren vielfältigen Wirkungen auf unser Gefühlsleben und in dessen körpersprachlichen Manifestationen.
Jeder von uns hat schon einmal den Wunsch empfunden, die Nähe eines Menschen zu suchen, den er bewundert, schätzt, liebt oder einfach schön findet. Wir haben dann das Gefühl, seine Weisheit, Stärke oder Schönheit strahle durch seine Nähe unmittelbar auf uns aus.
Wer kann sich nicht daran erinnern, wie er versucht hat, die Nähe der Eltern, des großen Bruders oder der älteren Schwester zu finden, die Nähe des Wortführers in seiner Clique oder, wenn es irgendwie möglich war, die Nähe des verehrten Popstars, jedenfalls in der ersten Reihe des Konzertsaals?
Im nächsten Augenblick kann uns der starke Wunsch nach Distanz überkommen, die Sehnsucht, uns endlich auf uns selbst zurückziehen zu können und allein zu sein. Das geschieht dann, wenn Menschen und Dinge uns einfach zu viel geworden sind, auch wenn es sich dabei um Eltern, Geschwister oder Freunde handelt. Wir möchten am liebsten einfach die Tür zuknallen, irgendwo spazieren gehen oder uns in eine Ecke unseres eigenen Zimmers verkriechen und niemanden hereinlassen. Alles das könnten wir eine natürliche Reaktion nennen, wenn es sich bei diesen Menschen um Feinde handelte. Aber wir lieben diese Leute doch! Was soll das Ganze also?
Die volkstümliche Redensart, die ich zum Titel dieses Buches gewählt habe, »Umarme mich, aber rühr mich nicht an«, spricht ja, ebenso wie die bekanntere Variante, »Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht nass«, ganz unzweideutig etwas Unmögliches aus. Genauso müsste es eigentlich mit dem Wunsch des Menschen nach Nähe und seinem gleichzeitigen Bedürfnis nach Distanz gehen.
Nähe und Distanz bezeichnen ja tatsächlich auf den ersten Blick einen Gegensatz, zwei einander entgegengesetzte Pole. Müsste man also nicht sagen, dass sie sich unter keinen Umständen miteinander vertragen? In Wahrheit jedoch bedingen sie einander: sie sind untrennbar miteinander verbunden wie die beiden Pole eines Magneten. Wir brauchen nur den richtigen Pol eines Magneten auszusuchen, um ihn mit einem anderen Magneten zu verbinden, und schon ziehen sich die beiden Magneten unwiderstehlich an. Wechseln wir die Pole, stoßen sie sich gegenseitig ab. Was bedeutet das?
Es bedeutet, dass wir beide Pole brauchen: Ohne Distanz keine Nähe, ohne Nähe keine Distanz. Wir sind auf diesen Dualismus angewiesen, weil ohne ihn keine Wahrnehmung möglich wäre. Er ist der Ursprung, der Beginn, die Voraussetzung jeder Wahrnehmung: Ohne Du gibt es kein Ich, ohne Nähe keine Ferne, ohne Höhe keine Tiefe. Die Unterscheidung macht die Wahrnehmung erst möglich: Was ist typisch für mich und nicht typisch für einen anderen? Wie erkenne ich Eigenarten von Menschen oder von Dingen? Nur durch ihre Unterschiedlichkeit, durch ihr Anderssein, auch wenn es nur in winzigen Nuancen sichtbar wird. Diese Abgrenzung voneinander ist notwendig, um sie unterscheiden und damit überhaupt erst erkennen zu können.
Indem ich mich abgrenze, nehme ich Distanz von den anderen: Identität und Individualität können nicht ohne Abgrenzung entstehen. Mehr als das: Ohne diesen Dualismus, ohne diese wahrgenommenen Unterschiede hören wir nicht, sehen wir nicht und fühlen wir nicht. Wie kann ich ein Gefühl wahrnehmen, ohne dass eine Veränderung meines Zustandes stattgefunden hat? Ohne Tonwechsel lässt sich keine Melodie wahrnehmen und keine Sprache erkennen, kein Geräusch identifizieren. Differenzierung und ihre Wiedererkennung verschafft die Erkenntnis der Dinge, und jede Differenzierung errichtet eine Distanz. Indem wir Menschen und Dinge miteinander vergleichen, können wir sie voneinander unterscheiden, den jüngeren Bruder vom älteren, den einen Freund vom anderen. Gäbe es die Unterschiede zwischen Menschen nicht, brauchte ich nicht mehrere, die auf mich einwirken, es würde mir ein einziger genügen. Zu der Differenzierung, die ich zwischen Mensch und Mensch treffen können muss, gesellt sich noch meine unterschiedliche Einstellung zu jedem Einzelnen. Auf beidem gründet sich die Qualität unserer Beziehung.
Gehen wir doch einmal zum Anfang aller Dinge zurück: Die ersten beiden Worte der Bibel, also des Alten Testaments, lauten in deutscher Übersetzung: »Am Anfang.« Und wo ein Anfang ist, gibt es ein Ende, nur wo ein Ende vorausgegangen ist, kann es überhaupt einen neuen Anfang geben. Im Hebräischen beginnt der Bibeltext mit dem Buchstaben B (Buchstaben sind im Hebräischen zugleich auch Zahlen, und somit steht der Buchstabe B für die Zahl 2). Theoretisch gesehen könnte der Text auch mit einem Wort beginnen, das ein A als ersten Buchstaben hat. A jedoch bedeutet Eins und Einheit, was vielleicht Gott heißen könnte, der keinen Anfang und kein Ende hat und daher für uns nicht fassbar ist. Wir können ihn nicht sehen, denn er bietet uns keine Unterscheidungsmerkmale.