Alltag auf arabisch - Nahaufnahmen von Kairo bis Bagdad

von: Karim El-Gawhary

Verlag Kremayr & Scheriau, 2013

ISBN: 9783218008761 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Alltag auf arabisch - Nahaufnahmen von Kairo bis Bagdad


 

Ein Tag Honig, ein Tag Zwiebeln


Warum Alltagscollagen aus der arabischen Welt politisch sind


Eine kleine brodelnde Gasse in der Kairoer Altstadt: Zwei Lastenträger mit ihren Handkarren haben sich, mit Bergen von Schuhkartons und Badeschwämmen beladen, in ein paar Autos verkeilt, die nicht ausweichen können, weil mehrere Straßenhändler mit ihrer bunt ausgelegten Ware die Hälfte des Weges blockieren. Es ist heiß, die Luft ist stickig. Es riecht nach den Gewürzen vom Laden an der Ecke und den Abgasen der Fahrzeuge im Leerlauf. Die Ohren sind betäubt vom Hupen der Autos, den Schreien der Straßenhändler, die stoisch weiterhin ihre Waren anpreisen, und dem Gezeter und Gezanke der Festgefahrenen, die sich gegenseitig die Schuld für die Misere zuweisen, ohne dass einer bereit wäre, den Rückwärtsgang einzulegen.

Schließlich stellt sich ein entnervter Passant auf eine Kiste und beginnt einen spontanen Vortrag zu halten. Gestenreich beschwert er sich nicht nur über die Hoffnungslosigkeit der vertrackten Verkehrssituation, sondern des ganzen Landes, ja der ganzen Region. „So geht es nicht weiter. Wir sind ein Heuhaufen, der auf seinen Funken wartet“, schmettert er seinem Publikum entgegen, das inzwischen alle Tätigkeiten unterbrochen hat und gebannt zuhört. Da greift einer der Lastenträger in seine Tasche. „Bitte sehr, mein Herr“, sagt er und überreicht dem verdutzten Redner unter dem Gelächter des Publikums eine Schachtel Streichhölzer.

Die Krise lauert immer in der nächsten Gasse, sie erwartet die Araber, wenn sie nach Hause kommen und Nachrichten hören. Ob in ihrem Land oder ihrer nahöstlichen Nachbarschaft, überall warten die Lunten auf ihre Streichhölzer.

Manchmal ist es einfach nicht mehr auszuhalten – im Großen wie im Kleinen. Der Irak blutet langsam aus. Mein Nachbar in Kairo wirft seinen Müll aus dem Fenster. Im Libanon patrouilliert die Armee auf den Straßen von Beirut, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Mein anderer Nachbar hat gerade sein neunstöckiges Haus illegal um eine weitere Etage aufgestockt, in der gleichen Woche, in der in Alexandria das Fundament eines ähnlich erweiterten Gebäudes nachgegeben und 20 Menschen unter sich begraben hat. In beiden Fällen wurde vermutlich die Baubehörde bestochen.

Der Gazastreifen hungert aus. Im Nildelta kommt es zu ersten Brotunruhen, in Saudi-Arabien soll eine Frau wegen Hexerei gesteinigt werden. Eine andere saudische Frau wird ins Gefängnis geworfen, weil sie es gewagt hat, mit einem männlichen Geschäftspartner bei Starbucks in Riad einen Kaffee zu trinken. Im Jemen reicht ein achtjähriges Mädchen die Scheidung ein.

An meiner Haustür klingelt es. Ali, der Botenjunge von der Wäscherei nebenan, bringt die Bügelwäsche zurück. Mit einem breiten Lächeln überreicht er mir meine frisch geplätteten Hemden. Er würde gerne Englisch lernen, verkündet er, und mit aufgeweckten Augen erzählt er mir seine Geschichte. Der 13-Jährige kommt aus dem südlichen Oberägypten und ist das älteste seiner Geschwister. Weil sein Vater nicht mehr arbeiten kann, musste er die Schule abbrechen. Von seinem bescheidenen Lohn lebt nun eine ganze Familie. Es gibt Zehntausende Alis in dieser Stadt. Es ist, wie gesagt, schwer auszuhalten.

Für die Europäer ist diese Region stets der Inbegriff des Fremden geblieben, egal welchen Namen sie ihr geben. Sprechen sie verklärt vom Orient, dann ist der Ort exotisch aufregend, es duftet nach Koriander und Kardamom, es ziehen die Kamelkarawanen im matten Schein des Halbmondes durch die Weiten der Wüste. In der Zeitung liest man dann vom Nahen Osten. Gemeint ist die größte Zapfsäule der Welt, dort, weit hinter der Türkei, wo die Völker aufeinander schlagen und Araber sich mit den Israelis zanken. Es ist ein Hort der permanenten Krisen und Kriege. Neokonservative Zwangsreformer sprechen dagegen von der arabischen Welt, dem demokratischen Brachland, das es umzupflügen gilt. Eine Gegend, die heilige Krieger und verschleierte Frauen hervorbringt und einen Islam, der unsere westliche Zivilisation bedroht.

Ob Orient, Naher Osten oder Arabische Welt: Dort spiegeln sich Mythen wider, Vorurteile und fremde Machtansprüche. Es ist das Symbol des Anderen. Und das hat weder Vor- noch Familiennamen, tritt höchstens in emotionalisierten Massen auf, verbrennt amerikanische oder dänische Flaggen. Und wenn es doch einmal als Individuum auftaucht, dann als Selbstmordattentäter.

Dieses Buch soll den Menschen in Kairo, Beirut und Bagdad einen Namen und Gesichter geben. Es will zeigen, wie bei aller orientalischer Exotik, in einer von Krisen, Kriegen und Armut geschüttelten Region, Menschen die gleichen Gefühle, kleinen und großen Lebensträume haben wie die Leser dieses Buches. Nicht die Krisen selbst stehen hier im Vordergrund, sondern die Menschen, die sie täglich meistern und dabei noch versuchen ein ganz normales Leben zu führen. „Ein Tag Honig, ein Tag Zwiebeln“, lautet ein arabisches Sprichwort. Es könnte auch das Motto dieses Buches sein. Mit viel Witz, einer gehörigen Portion Gelassenheit, manchmal auch einer lähmenden Gleichgültigkeit und oft einer tröstenden Schicksalsgläubigkeit ziehen die Araber in ihren täglichen Überlebenskampf.

Fast zwei Jahrzehnte sammle ich nun als Nahost-Korrespondent Anekdoten und Geschichten von Menschen in dieser Region. Manche wurden im Laufe der Jahre in deutschsprachigen Zeitungen veröffentlicht, einige waren im Rundfunk zu hören, andere werden hier das erste Mal erzählt. Nicht durch ein Teleobjektiv aus der Ferne beobachtet, sondern durch Nahaufnahmen soll Tuchfühlung aufgenommen und Beziehung hergestellt werden. Es sind heitere und ernste, verrückte und tragische Geschichten, aus dem Leben selbst – aus Honig und Zwiebeln eben.

Wie chauffiert man schweißgebadet seinen Neuwagen durch Kairos Verkehrschaos? Was hat die Wohnung meiner Tante in Alexandria mit dem Klimawandel zu tun? Wie geht man mit den kafkaesken Arabesken einer 7000 Jahre alten ägyptischen Bürokratie um, die Strafzettel für das Überfahren einer roten Ampel verteilt, in einer Straße, in der es gar keine Ampeln gibt? Und über allem: dicke Luft in der Stadt, jenseits der Schadstoffgrenzen, bei der jede europäische Feinstaubdiskussion wie Hohn anmutet.

Aber es geht auch darum, wie Menschen mit etwas mehr als einem Euro am Tag um ihr und das Überleben ihrer Familien kämpfen. Menschen wie Abu Aschraf, der als Metallarbeiter 40 € im Monat verdient und nicht weiß, von welchem Geld er am ersten Schultag seine Kinder einkleiden soll. Wie jenseits des Staates Konflikte geschlichtet werden, mit Sana’, der „Scheichin der Gasse“, einer Schneiderin, die in einem Kairoer Armenviertel zugleich als Friedensrichterin und Bewährungshelferin auftritt. Immer wieder tauchen sie auf, die „Sittat bi-miat ragil“ – die Frauen, die hundert Männer in die Tasche stecken. Frauen wie die Rallyefahrerin Laleh Saddigh, bei der das Kopftuch sichtbar wird, wenn sie ihren Helm abnimmt. Sie alle entsprechen so gar nicht dem westlichen Bild von der schwachen, ohnmächtigen muslimischen Frau.

Es soll nichts beschönigt werden. Hier geht es auch um Tabus. Viel ist von Heuchelei und den zwei Gesichtern islamischer Gesellschaften die Rede. Vom Kampf zwischen Anspruch und Wirklichkeit, dessen Front hinter Waschpulver und Windeln im hinteren Regal in Abu Summers Tante-Emma-Laden in Bagdad verläuft, wo der christliche Händler Whisky, Wodka und Dattel-Arrak feilbietet und fast ausschließlich Muslime zu seinen Kunden zählt. Oder vom Sextourismus in Kairo: Im Eigenversuch wird getestet, wie das Netzwerk aus Pförtnern, Wohnungsmaklern und Prostituierten funktioniert, das meist reichen Golfarabern käufliche Liebe verschafft.

Deutlich wird auch die kulturelle Zerreißprobe der Menschen. Zwischen Konsum und Spiritualität meinen viele auf der Suche nach ihrer Identität ihr Heil in schnellen islamischen Patentrezepten zu finden, bei einer Art „Instant-Islam“: schnell ein Kopftuch auf, flugs einen Bart wachsen lassen – so treten Äußerlichkeiten ins Zentrum der eigenen Religiosität. Und dann ist da noch der Frust, stets politisch auf der Verliererseite zu stehen, sei es gegenüber dem überlegenen Westen, Israel oder den eigenen arabischen Regimes. Ein Gefühl, das zur Folge hat, dass sich selbst meine eigenen, verwestlichten Tanten als potenzielle Terroristen outen.

Auch Berichte aus den Kriegsgebieten enthält dieses Buch. Es sind keine Front-Reportagen, in kugelsicherer Weste recherchiert, sondern Geschichten von hinter der Front, aus dem Libanonkrieg oder von den zerplatzten Lebensträumen einer befreundeten irakischen Familie. Jahrelang hatte sie einem Leben ohne Saddam entgegengefiebert. Groß, aber bald enttäuscht, waren ihre Hoffnungen nach dessen Sturz im neuen Irak. Inzwischen sind sie froh, das Land mit heiler Haut verlassen zu haben. „Niemals hatten wir die Wahl“, sagt die Irakerin Intisar heute, „keiner hat sich Saddam ausgesucht, und nach ihm hatten wir keine andere Wahl als zu flüchten.“

Vielleicht ist es genau das, was die Autoren des UN-Berichtes zur „Entwicklung in der arabischen Welt“, meinen, wenn sie zu deren Beschreibung zu den Sternen greifen: „Der moderne arabische Staat folgt im politischen Sinne einem astronomischen Modell, in dem die Staatsmacht ein schwarzes Loch darstellt, das seine soziale Umgebung in einen Zustand versetzt, in dem sich nichts bewegt und aus dem es kein Entrinnen gibt.“

Medien verkürzen. „Erklären Sie uns den Nahen Osten in 40 Sekunden“, lautet die Aufgabe, die das...