Wissen an der Grenze - Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin

von: Claudia Peter, Dorett Funcke

Campus Verlag, 2013

ISBN: 9783593420172 , 506 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 41,99 EUR

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Wissen an der Grenze - Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin


 

Im Oktober 2011 hörten wir einen Vortrag über die Zukunft des Kosmos: Wenn die aus kosmischer Sicht kurze Phase menschlichen Lebens auf der Erde vorüber und auch die Erde längst zerstört sein wird, löst sich das Universum gleichsam auf. Die Galaxien entfernen sich immer weiter voneinander, werden im Kosmos erst zu einsamen Inseln und dann von schwarzen Löchern geschluckt. Ursache dafür sei die beschleunigte Expansion des Universums. Der Kosmos dehne sich immer schneller aus, irgendetwas treibe ihn immer schneller auseinander. Der Autor des Vortrages, ein Astrophysiker aus Aachen, berichtete, dass dafür eine rätselhafte Dunkle Energie verantwortlich gemacht werden kann, aus der das Universum zu 70 Prozent besteht. Was sich dahinter verbirgt, sei bislang völlig unklar. Weitere 25 Prozent fallen auf die so genannte Dunkle Materie und etwa 5 Prozent mache die uns vertraute Materie, also Atome, aus. Hans-Joachim Blome, der diesen Vortrag auf der interdisziplinären Tagung 'Exploring Uncertainty' in Aachen mit dem Titel 'Gewiss ist nur das Ungewisse' hielt, beschloss seinen Vortrag mit den Worten, dass das, was wir nicht sehen, verantwortlich ist für die Expansion des Kosmos: 'Es gibt eben kosmische Horizonte, hinter die man nicht kommt'.

Als wir uns entschieden, zu dieser disziplinübergreifenden Konferenz nach Aachen zu fahren, auf der Physiker, Mediziner, Informatiker, Mathematiker, Philosophen, Psychologen, Soziologen, Ingenieure, Meeres- und Klimaforscher, Sprach- und Literaturwissenschaftler und Künstler zusammenkamen, waren wir schon mittendrin in den Überlegungen zu diesem Rahmentext unseres Sammelbandes. Interessant fanden wir an diesem Konferenzvorhaben das Unternehmen, aus einer multiperspektivischen Sicht ein Wissensphänomen ins Zentrum zu stellen, das - wie Günter Abel sagte - 'seine Karriere noch vor sich hat'. Hatten doch auch wir zu unserem Band Vertreter verschiedener Disziplinen eingeladen, um über die Bedeutung und den Umgang mit Ungewissheit und Nichtwissen aus ihrer (disziplinären) Sicht zu schreiben. Herausgekommen ist dabei ein Sammelband, der eine Art Podium darstellt, auf der verschiedene Stimmen versammelt sind. Es handelt sich bei diesen Stimmen nicht um einen Chor, der zu einem gemeinsamen Werk anstimmt, sondern um einzelne Stimmen, die für einzelne Standpunkte (für sich) und Standorte (eben Disziplinen) stehen, da - das hat auch die Aachener Konferenz gezeigt - gerade bei diesem Thema in absehbarer Zeit und eventuell konstitutiv bedingt keine geteilten Meinungen und schon gar kein Konsens zu erwarten ist.

1. Aktuelle Forschungsinitiativen und Debatten um das Phänomen Nichtwissen und Ungewissheit

Dass wir als Soziologinnen nicht die Einzigen waren, die über Ungewissheits- und Nichtwissensphänomene nachdachten, uns austauschten und publizierten, war von Anfang an offensichtlich. Während unser Sammelband im Verlauf der Zeit Kontur gewann, zeichnete sich mehr und mehr ab, dass fachdisziplinübergreifend eine Vielzahl an Forschern zur wissenschaftlichen Erkundung des Nichtwissens angetreten war. Nur ein paar Beispiele: Eine Gruppe von Erziehungswissenschaftlern bot 2003 in einem Sammelband einen variantenreichen Zugang zum Thema Ungewissheit im Kontext erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen (Helsper u.a. 2003). Im Anschluss an eine transdisziplinäre Konferenz zum Thema 'Formen des Nichtwissens der Aufklärung', auf der Literaturwissenschaftler eine Antwort auf die Frage suchten, wie (Nicht-)Wissen strategisch, poetisch, poetologisch oder psychologisch zum Einsatz kommt, ist ein Sammelband publiziert worden, der darauf abzielt, über die explizite Frage nach dem Nichtwissen den Epochenbegriff der Aufklärung zu schärfen (Adler/Godel 2010). Auch im außerwissenschaftlichen Bereich steigt die Aufmerksamkeit: In einem Fachverlag für systemische Therapie, Beratung und systemisches Management hat 2011 ein Herausgeber Beiträge versammelt, in dem sich neben Wissenschaftlern Manager großer Unternehmen und Unternehmensberater zum Thema Management von Nichtwissen in Unternehmen und Organisationen äußern (Zeuch 2011). Auch gab und gibt es an verschiedenen Universitäten wie der LMU München, der TU Berlin und der TU Darmstadt Projekte, deren Bezugspunkt - um Entwicklungsdynamiken (post-)moderner Gesellschaften zu erklären -, Ungewissheits- und Nichtwissensphänomene sind. In dem Teilprojekt 'Politische Epistemologie der Ungewissheit: Wissen, Nicht-Wissen, Uneindeutigkeit' des SFB 536 'Reflexive Modernisierung' an der LMU München ging es darum, was passiert, wenn in krisenhaften Situationen die Wissenschaft 'sich selbst zu einer Quelle von Ungewissheit, Nicht-Wissen und kategorialer Uneindeutigkeit entwickelt'? Verhandelt wurde in diesem Zusammenhang auch das Problem der Moderne, angesichts der Erfahrungen von Kontingenz und Nebenfolgen uneindeutiger und unsicherer zu werden: Wie gehen Akteure, Institutionen und Organisationen damit um, dass nicht intendierte Nebenfolgen die intendierten Absichten nicht selten in einer Weise konterkarieren, so 'dass die Bearbeitung der Nebenfolgen mehr Aufmerksamkeit und Aufwand erfordert als das ursprüngliche Handlungsprogramm?' In den Projekten der TU Berlin und TU Darmstadt geht es zentral um die Bestimmung und Vermittlung von Wissensgrenzen beziehungsweise -lücken. Im erstgenannten sind es Extremereignisse wie die katastrophalen Ereignisse anlässlich der Duisburger Loveparade, in dem zweitgenannten das Beispiel der Umweltwissenschaften, an denen verdeutlicht wird, dass es nicht mehr (nur) darum geht, neue Forschungsfragen zu entwickeln, um besseres Wissen zu generieren. Sondern ein Ziel moderner Gesellschaften muss auch sein, unter Einbezug des Nichtwissens und der Anerkennung unüberwindbarer Wissens- und Komplexitätsgrenzen weniger gebannt auf die Wissenschaften zu starren und 'neue Formen des umsichtig-produktiven Umgangs mit Nichtwissen zu entwickeln'.

Auf der Aachener Konferenz war die Rede davon, den 'produktiven Charme der Ungewissheit' zu nutzen. Wenn wir gezwungen sind, unter den Bedingungen von Ungewissheit zu handeln, dann komme es darauf an, 'die Modelle, Methoden und Simulationen zu verbessern, um Ungewissheit produktiv zu machen'. Betont wurde, dass Modelle, die Erklärungen und Vorhersagen von Extremereignissen machen sollen, mehr dem Beachtung zu schenken haben, was sie nicht in ihrer Modellierung berücksichtigen können: Aber wie modelliert man das Nichtgewusste und damit (noch) Nichtmodellierbare? Es gehe darum, die Begrenztheit eines Erkenntnisstandes auszuloten und dabei gleichsam 'das Meer des Unwissens zu kartieren'. Bei uns hat sich durch diese Art, in der die Debatte über Nichtwissen und Ungewissheit geführt wird, folgender Eindruck eingestellt. Zwar geht es nicht mehr darum, ganz im Sinne eines Programmes moderner Gesellschaften Ungewissheiten und Nichtwissen zu überwinden, um so (Handlungs-)Sicherheit herzustellen, aber an der Fiktion, Sicherheit erreichen zu können, wird weiter festgehalten. Nur eben ist der Weg ein anderer: Es geht um die bessere Kontrolle des Nicht-Gewussten. Das Neue, das Ungewisse und Unbekannte, dessen Konturen wir noch nicht kennen, soll durch Bestimmung der Erkenntnisgrenzen und -lücken eingehegt, besser habhaft gemacht werden. Dahinter steckt aber immer noch ein positiv bestimmter Begriff von Nichtwissen, der durch forscherische Erkundungen genauer bestimmt werden kann.

Im Kontrast zu den Projekten der TU Darmstadt und der TU Berlin lag unserer Beschäftigung mit dem Phänomen des Nichtwissens und der Ungewissheit ein konkretes Feld zugrunde: das der neuen Medizintechnologien und -techniken. Warum diese Eingrenzung?