Guten Morgen, Abendland - Almanya und Türkei - eine Familiengeschichte

von: Nazan Eckes

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2010

ISBN: 9783838702995 , 245 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Guten Morgen, Abendland - Almanya und Türkei - eine Familiengeschichte


 

»LEY LEY LİMİ LİMİ LEY« ODER DER DUFT DER HEIMAT


Die Sommerferien waren früher der Höhepunkt eines jedes Jahres, denn dann fuhren wir in die Türkei, die Heimat meiner Familie. Schon Wochen vorher erzählte ich meinen Freundinnen in der Schule aufgeregt davon und konnte es kaum abwarten, dass dieses Reiseabenteuer endlich wieder losging.

Auch meine Eltern wurden mit dem Näherrücken der großen Ferien sichtlich nervöser, denn die viertausend Kilometer lange Fahrt musste gut vorbereitet werden. Mein Vater hatte sich im Vorfeld um das Auto zu kümmern: Inspektion, neue Reifen, Ersatzkanister mit Sprit, Decken und Kissen für die Fahrt. Meine Mutter, die für die Mitbringsel, die Koffer und die Verpflegung während der langen Fahrt zuständig war, verbrachte gefühlte zwei Monate allein mit dem Packen. Sechs Wochen Urlaub, zwei Erwachsene und drei Kinder – das macht zwei sehr große Koffer und diverse große und kleine Reisetaschen, die bis in die letzte Ritze gefüllt sind.

Sechs Wochen Urlaub … das hört sich im ersten Moment lange an; aber wenn man bedenkt, dass die gesamte Familie meiner Mutter und die gesamte Familie meines Vaters – und sie sind auf beiden Seiten sehr groß – darauf warteten, uns in dieser Zeit alle endlich wiederzusehen, war das verdammt kurz.

Unsere Kleidung nahm in den Koffern und Taschen noch den geringsten Platz ein, platzgreifender waren die vielen Mitbringsel aus »Almanya« für die Verwandten. Jeder Einzelne, Tanten, Onkel, Omas, Opas, Freunde, Schwägerinnen, Cousins und Cousinen wurden mit »Hediyeler« versorgt. Wobei man sich fragen konnte, ob wir die Geschenke machten, weil man uns so sehnsüchtig erwartete, oder ob wir so sehnsüchtig erwartet wurden, weil jeder bedacht wurde. Aber das konnte man nicht mehr zurückverfolgen, jedenfalls war sowohl die Sehnsucht als auch die Menge der Produkte »made in germany« beachtlich.

Schon Wochen vor unserer Abreise wurden meiner Mutter die ersten Wünsche aus ihrer Heimat mitgeteilt. Auf diese Weise haben nicht nur die Türken in Deutschland, sondern auch ihre zahlreichen Verwandten und Freunde in der Heimat einen Beitrag zur deutschen Wirtschaft geleistet. Meine Mutter jedenfalls war sicherlich nicht die einzige Türkin in Deutschland, die vor dem Heimaturlaub wie verrückt Geschenke kaufte. Und unsere Verwandten wussten, Gülser kann nicht Nein sagen. So landeten die Wunschlisten bei ihr und nie bei meinem Vater. Ihn kannte auch die Familie nur zu gut, mein Vater hatte kein Verständnis dafür, dass Shampoo, Cremes, Parfüm, Schokolade oder Ähnliches im Auto von Deutschland über Österreich, Exjugoslawien und Bulgarien bis in die Türkei transportiert wurde. All das gab es auch in der Türkei. »Oradan alırız.« – Kaufen wir alles dort, sagte mein Vater nur, wenn ihm doch einmal ein Wunsch zu Ohren kam. Punkt.

Ganz stimmte das in den Achtzigern noch nicht, etwa Milka und Alpia waren in der Türkei damals nahezu Delikatessen, die es höchstens in sehr gut sortierten Läden gab, in denen der Durchschnittsbürger nicht einkaufen ging. Aber meine Mutter konnte es einfach nicht lassen … Wie ein verdeckter Ermittler, der heimlich Beweise sammelt, besorgte meine Mutter nach und nach die Geschenke. Sie war so gut darin, dass mein Vater selten mitbekam, was sich hinter der Schlafzimmertür, in den Schubladen, im Keller oder an irgendwelchen anderen Orten der Wohnung ansammelte. Sie war nach einigen Jahren erfahren und müde genug und wollte jeglicher Diskussion aus dem Weg gehen. Paradoxerweise waren die meisten Geschenke für Familienmitglieder meines Vaters.

Wenn meine Mutter mit Näherrücken des Abreisetages den wachsenden Geschenkestress doch nicht mehr verbergen konnte, begann mein Vater vor Wut förmlich zu kochen, aber zu spät, jetzt waren die Sachen gekauft und mussten mit. Doch solange ihm nichts auffiel, organisierte Agentin Gülser heimlich den Transport. Gott sei Dank war das Packen bei uns damals Frauensache, so hatte meine Mutter ein weites Feld zum Verstecken von Fläschchen, Döschen, Tütchen und Tübchen, und es fand sich in jedem Hosenbein, in jeder Socke, in jedem Hemdsärmel ein Plätzchen für all die Sachen, die den Verwandten dankbares Lächeln ins Gesicht zauberten. Parallel dazu muss man sich das Gesicht meines Vaters vorstellen, wenn er am Tag der Abfahrt die schweren Koffer und Reisetaschen anhob, die seine Frau sorgfältig gepackt hatte. Spätestens wenn der Wagen unter der Last des Gepäcks und Proviants, der ebenfalls stattliche Tüten und Behältnisse füllte, ächzend hinabsank, war der Spaß endgültig vorbei.

Auch ich beteiligte mich als ältestes Kind irgendwann an der »Wie viel darf in den Wagen?«-Diskussion. Ich fand es nämlich furchtbar, wenn auch die Rücksitze beziehungsweise der Fußraum vor mir als Stauraum dienen musste. Dann verwandelte sich die Rückbank des Autos in eine Art Liegewiese, die meine Mutter mit Decken und Kuschelkissen bestückte. Das klingt gemütlich, und meine Schwester Belgin und mein Bruder Cüneyt waren immer begeistert davon, sich wie in einen überdimensionalen Kinderwagen legen zu können, aber ich wollte viel lieber aufrecht sitzen und meine Beine ausstrecken. Nicht nur, dass es meiner Meinung wesentlich angenehmer war, ich fand es auch »deutscher«. Schließlich hatten deutsche Familien immer nur so viel in ihrem Auto geladen, wie in den Kofferraum passte, der Rest blieb zu Hause und der Fußraum – stets sauber gesaugt natürlich – frei für die Beine. So hätte ich es auch gern gehabt, schließlich waren wir drei Tage lang unterwegs!

Am schlimmsten müssen unsere Reisen in die Heimat für meinen Vater gewesen sein, der damals noch rauchte. Er vermied es zwar in der Regel, sich in Gegenwart von uns Kindern eine Zigarette anzustecken, aber während der Türkeifahrten in unserem mintgrünen, völlig überladenen 190er Mercedes herrschte eine Art Ausnahmezustand mit Sonderregelstatus.

Dann musste er Kilometer für Kilometer durchhalten. Durchhalten, weil die Strecke nicht enden wollte, und durchhalten, weil er am liebsten dauernd eine Zigarette im Mundwinkel gehabt hätte … Und durchhalten trotz der ständigen Streitereien, die von »Wer darf was mitnehmen und was muss zuhause bleiben« über »Fenster auf, Fenster zu« und »Musik an, Musik aus« bis hin zu »Mir ist schlecht, mir ist kalt, mir ist heiß« gingen. Fünf Leute, fünf Meinungen. Man konnte sich immer darauf verlassen, dass einem von uns irgendetwas nicht passte.

Nur bei einem Thema waren wir uns alle einig.

Musik. Ohne Musik wollten wir nicht einen einzigen Kilometer fahren. Ich schätze, ich war neun oder zehn Jahre alt, als ich meinen ersten Walkman bekam.

Während mir also Madonna La Isla Bonita ins Ohr säuselte, drehte meine Mutter die Musik vorn immer lauter. Alles türkische Klassiker mit wummerndem Bass und begleitet von der Zurna, einer persischen Oboe, deren Klänge europäische Ohren eher an das Quietschen eines Luftballons erinnert, bei dem man nach und nach die Luft entweichen lässt.

Es gab nur ein einziges Lied, für das ich bereit war, die lallende Madonna – das tat sie immer dann, wenn die Batterie schwächer wurde – zu unterbrechen.

Unsere Familienhymne.

Ich nenne sie so, weil wir auf jeder Fahrt gemeinsam dieses Lied hörten und alle fünf lautstark mitsangen. Das war heile Welt pur, Vorfreude auf den Urlaub, ein bisschen Türkei im Auto, HEIMAT – und ein bisschen peinlich, aber meine Freunde waren schließlich nicht in der Nähe. Also stimmte ich mit ein:

Tren gelir hoş gelir

Ley ley limi limi ley

Odaları boş gelir

Mini mini güzel gel bize

Duydum yar bize gelmiş

Ley ley limi limi ley

Sefa gelir hoş gelir

Mini mini güzel gel bize

Beydağına kar yağar

Ley ley limi limi ley

Kar altında güller var

Mini mini güzel gel bize

Ben mahleden geçerken

Ley ley limi limi ley

Pencereden yar bakar

Mini mini güzel gel bize

Das sind nur die ersten beiden Strophen … Und jetzt, meine ganz freie Übersetzung:

Es fährt ein Zug herbei, er ist willkommen

Ley ley limi limi ley

Die Zimmer frei, kommt er herbei

Mini mini güzel gel bize

Ich höre, die Geliebte ist zu uns gekommen

Ley ley limi limi ley

Sie ist vergnügt, sie ist willkommen

Mini mini güzel gel bize

Auf den Berg rieselt der Schnee

Ley ley limi limi ley

Unter dem Schnee sind Rosen gebettet

Mini mini güzel gel bize

Als ich durch die Straße gehe

Ley ley limi limi ley

Sieht die Geliebte aus dem Fenster

Mini mini güzel gel bize

Ich gebe es zu, der Text ist nicht mal mehr Geschmackssache, rätselhaft bleibt vor allem der Refrain »Ley ley limi limi ley«. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was er bedeutet. »Mini mini güzel gel bize« heißt wohl so viel wie »Mini Mini schön komm zu uns«. Warum dieses türkische Lied ein so großer Erfolg wurde? Erneut keine Ahnung. Aber dieses Lied macht gute Laune. Bekannt geworden ist der Titel durch İbo. İbrahim Tatlıses, İbrahim, die »Süße Stimme«. (Diesen Namen müssen Sie sich merken. In der Türkei kommt er gleich hinter Michael Jackson.)

Singend, dösend, lachend, jammernd, schimpfend legten wir weitere Kilometer auf dem Weg in die Türkei zurück.

Immer wieder wurden wir von noch schwerer beladenen Ford-Transit-Bussen...