Der Spiegel der einfachen Seelen - Mystik der Freiheit

von: Marguerite Porete

marixverlag, 2012

ISBN: 9783843801935 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Der Spiegel der einfachen Seelen - Mystik der Freiheit


 

Marguerite Porete – Mystik der Freiheit


Am 1. Juni 1310 wurde Marguerite Porete in Paris auf dem Place de Grève (heute Place de l’ Hôtel de Ville) bei lebendigem Leib verbrannt. Man zwang sie, den Scheiterhaufen mit dem Buch in der Hand zu besteigen, das ihr die Verurteilung als rückfällige Häretikerin eingebracht hatte. Angesichts des unmittelbar bevorstehenden grausamen Feuertods soll Marguerite Porete zu erkennen gegeben haben, dass sie zu Widerruf und Reue bereit sei. Während ihres Prozesses und ihrer Gefängnishaft hatte sie eine beeindruckende Haltung an den Tag gelegt: Sie verweigerte nicht nur jede Aussage und den geforderten Widerruf, sondern auch den Treueid, der einer förmlichen Anerkennung des Tribunals gleichgekommen wäre. Auch die ihr angebotene Absolution für Sünden, deren sie sich nicht schuldig fühlte, lehnte sie entschlossen ab. Die innere Freiheit und Souveränität, die sie in ihrem Buch theologisch begründet, bewahrt sie selbst noch angesichts des drohenden Feuertods.

Wer war diese bemerkenswerte Frau? Die Quellen, aus denen wir heute die recht spärlichen Informationen zur Biografie und Person Marguerites schöpfen, sind nur wenige: An erster Stelle ist ihr eigenes Buch zu nennen, dann die Prozessakten und schließlich im Kontrast zu diesen die rühmenden Beurteilungen dreier Zeitgenossen: eines Franziskaners, eines Zisterziensers und des berühmten Theologen Godefroi (Gottfried) de Fontaine, der von 1285 bis 1286 auch Kanzler der Universität in Paris war. Höchstwahrscheinlich stammt sie aus der nordostfranzösischen Stadt Valenciennes. Da in den Prozessakten jeder Hinweis auf ihr Alter fehlt, kann man ihr Geburtsjahr nur vage um das Jahr 1250 vermuten. Ihre außergewöhnlich hohe Bildung legt nahe, dass sie dem Patriziat der Stadt entstammte. Aus ihrem Buch selbst lässt sich schließen, dass sie bestens vertraut war mit der höfischen Literatur ihrer Zeit (so nimmt sie in einer Gleichniserzählung zu Beginn auf den berühmten Alexanderroman Bezug; die Sprache der Adelswelt ist insgesamt ein charakteristischer Grundzug ihres Buches); geprägt ist sie wohl von den mystischen Werken der Beginen Beatrix von Nazaret und Hadewijch von Antwerpen, und von den Denkmethoden und Argumentationsfiguren der hochmittelalterlichen Scholastik besitzt sie offensichtlich eine meisterhafte Kenntnis. Ihr Name, der zuweilen mit »kleiner Lauch« übersetzt wird, könnte darauf hindeuten, dass sie verheiratet war: Es könnte sich um die damals übliche weibliche Namensform handeln, die vom Namen des Gatten (Poré, Porreau oder Poireau) abgeleitet wurde. Etwa um das Jahr 1290 dürfte sie ihr Buch »Der Spiegel der einfachen und zunichte gewordenen Seelen« in der französischen Volkssprache geschrieben und veröffentlicht haben. Dass es zunächst bei ihren Adressaten auf kühle Ablehnung stieß, deutet sie in einem später angefügten Teil des Buches selbst an: »Die Beginen sagen, ich bin im Irrtum, und ebenso Priester, Kleriker und Prediger, die Augustiner und auch die Karmeliten und die Minderen Brüder …« Im Jahr 1300 schließlich wurde das Werk auf dem Hauptplatz von Valenciennes öffentlich verbrannt. Der Bischof von Cambrai drohte jedem mit Kirchenacht, der das Buch verbreite oder auch nur in seinem Besitz habe. Doch nicht zuletzt aufgrund der lobenden Würdigungen der drei oben erwähnten Theologen lässt sich Marguerite Porete nicht beirren, bringt ihr Buch weiter – wohl eher in kleinem Kreis – zum Vortrag und verschickt es an verschiedene einflussreiche Persönlichkeiten. Sie scheint sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. Das trug ihr schließlich die Anklage des berüchtigten Dominikaners Wilhelm von Paris ein, seines Zeichens Großinquisitor und Beichtvater des französischen Königs Philipps des Schönen. Wilhelm von Paris war auch eine der Schlüsselfiguren bei der Verfolgung und schließlichen Vernichtung des Templer-Ordens. Eine hochkarätig besetzte Kommission von einundzwanzig Theologen – unter ihnen der berühmte franziskanische Bibelwissenschaftler Nikolaus von Lyra – wurde einberufen, um das Werk zu beurteilen. Fünfzehn willkürlich aus dem Zusammenhang des Gesamtwerks gerissene Sätze wurden als häretisch beanstandet und führten zur Verurteilung Marguerites als »rückfällig gewordene Ketzerin«. Die heilige Inquisition übergab sie dem weltlichen Arm, der das Urteil zu vollstrecken hatte, nicht ohne die damals übliche heuchlerische Bitte, man möge, soweit es das Urteil zulasse, barmherzig mit der Delinquentin verfahren.

Aus den Prozessakten geht hervor, dass Marguerite Porete eine Begine war. Tatsächlich sind die tragenden geistlichen Erfahrungen und Reflexionen ihres Buches ohne den Hintergrund dieser konkreten Lebensform nicht zu verstehen. Das Beginentum stellt eine der vielen religiösen Aufbruchsbewegungen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts dar, die man als religiöse Reaktion auf den gewaltigen ökonomisch-gesellschaftlichen Umbruch begreifen kann, wie er mit der wachsenden Bedeutung der Städte, der Geldwirtschaft und eines entstehenden kommerziellen Kapitalismus einherging. Neben den Armutsbewegungen, aus denen unter anderem die Bettelorden hervorgingen, entstand mit den Beginen eine ganz neue Form der Spiritualität und Lebensweise. Es handelte sich dabei im Wesentlichen um eine Frauenbewegung (das männliche Gegenstück, die Begarden, war zahlenmäßig nicht sehr bedeutsam). Frauen vor allem aus dem niederen Adel und dem städtischen Patriziertum fanden für sich eine relativ autonome Lebensweise, die ihnen eine Alternative zum Zwangsinstitut der patriarchalischen Ehe bot, ohne dass sie sich der strengen Reglementierung des Klosterlebens unterwerfen mussten. Die Beginen lebten in ihren eigenen Häusern bzw. in denen von Verwandten, verdienten sich ihren Lebensunterhalt selbst durch verschiedene Tätigkeiten von Handarbeiten bis zur Krankenpflege, verpflichteten sich zu eheloser Keuschheit und Armut, ohne jedoch die irreversible kirchenrechtliche Bindung von Ordensgelübden auf sich zu nehmen. Unverheiratete, Verheiratete und Witwen fanden sich gleichermaßen in diesen Gemeinschaften. Für den Beitritt zu einer Beginengemeinschaft bedurfte es keiner Mitgift, was auch Angehörigen des weniger betuchten niedrigen Adels diese Möglichkeit eröffnete. Im Gegensatz zu weiblichen Ordensgemeinschaften unterstanden die Beginen anfangs nicht der spirituellen Leitung eines von der kirchlichen Hierarchie dafür bestimmten Priesters. Lange Zeit konnten sie diese relative Autonomie bewahren und genossen dabei den Schutz einer indirekten kirchlichen Anerkennung. (Der spätere Kardinal Jakob von Vitry hatte eine mündliche Anerkennung vonseiten des Papstes Honorius III. erwirkt.) Die Häuser der Beginen waren schlicht durch ein weißes Kreuz gekennzeichnet, ihr eigenes Erscheinungsbild fiel vor allem durch eine eigenartig ausladende Kopfbedeckung auf. »Chabbisköpf« (Kohlköpfe) war deshalb in Basel ein gängiger Spottname für sie. Neben den sesshaften Beginen gab es auch solche, die ein Wanderleben führten, und dass einige von ihnen sich ihren Lebensunterhalt durch Prostitution verdienten, scheint nicht immer nur üble Nachrede der Zeitgenossen gewesen zu sein. Die Beginenbewegung breitete sich rasch in Europa aus und wurde über zweihundert Jahre lang zu einer prägenden Kraft, die das abendländische Christentum mit einem innovativen Element bereicherte. Nordfrankreich, die Niederlande (einschließlich Belgien), das Rheinland, die Schweiz, aber auch Süddeutschland waren die hauptsächlichen Verbreitungsgebiete. Auf insgesamt eine Million Frauen schätzt man die Zahl der Beginen, was etwa drei bis vier Prozent der weiblichen Bevölkerung dieser Regionen entsprach. Der soziologische Hintergrund dieser Bewegung ist einerseits die große Zahl von Frauen in ungesicherten Lebensverhältnissen (u.a. bedingt durch einen demografischen Frauenüberschuss) und andererseits die patriarchalische Unterdrückung in der Ehe mit ihrer ununterbrochenen Reihe von Geburten, mit dem selbstverständlichen Züchtigungsrecht des Mannes usw. Bewegende zeitgenössische Berichte zeugen von der inneren Not junger Frauen, die alles daransetzten, dieser Art von Ehe zu entgehen, und in den Beginengemeinschaften eine Zuflucht fanden.

Vor allem aber gedieh unter diesen frommen Frauen eine neue Form des spirituellen Lebens. Der weitgehend selbstbestimmten Lebensweise entsprach auch ein neues religiöses Selbstbewusstsein. Die Einmaligkeit und einzigartige Würde einer jeden Seele vor Gott, die Relativierung der kirchlich-institutionellen Formen des Glaubensvollzugs, das gemeinsame Lesen der Bibel in der Volkssprache waren dabei zentrale Elemente, die auch bei Marguerite Porete deutlich hervortreten. Die religiöse Fruchtbarkeit der Beginenbewegung wird nicht zuletzt an den großen Gestalten deutlich, die aus ihr hervorgingen: Neben Marguerite Porete selbst und den oben bereits erwähnten Mystikerinnen Beatrix von Nazaret und Hadewijch von Antwerpen ist hier vor allem Mechthild von Magdeburg als eine überragende Persönlichkeit der mittelalterlichen Frauenmystik zu nennen.

Die Kehrseite dieser im Rahmen der damaligen Möglichkeiten relativ autonomen Lebensform und eines innovativen religiösen Lebens waren natürlich Schutzlosigkeit, Verdächtigungen, Verfolgungen und schließlich eine immer stärkere kirchliche Reglementierung. Bereits die Bezeichnung »Beginen« dürfte sich von der verhassten und als häretisch betrachteten Bewegung der Albigenser herleiten. Mechthild von Magdeburg musste schließlich bei den Zisterzienserinnen Zuflucht suchen, und das Schicksal der Marguerite Porete selbst ist das beste Beispiel für die Gefährdetheit, der diese Aufbruchsbewegung ausgesetzt war.

Marguerite Poretes Buch enthält keine Beschreibung von Visionen. Der...