Analyse demokratischer Regierungssysteme

von: Klemens H. Schrenk, Markus Soldner

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2009

ISBN: 9783531919553 , 626 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 67,43 EUR

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Analyse demokratischer Regierungssysteme


 

Much Ado about Nothing? Zur Verpackungsehrlichkeit des europäischen Verfassungsprojekts (S. 463-464)

1. Einleitung

Seit dem Oktober 2004 bewegt das Verfassungsthema die Politik der Europäischen Union. Nach langer, mühevoller Vorbereitung durch einen Verfassungskonvent hatten sich die europäischen Institutionen auf einen Entwurf verständigt, der – je nach nationaler Verfassungslage oder politischem Kalkül – der Ratifizierung durch die Völker und Parlamente der Mitgliedstaaten harrte. Der Ratifizierungsprozess geriet dramatisch ins Stocken, als der Verfassungsentwurf Mitte 2005 recht unerwartet die Zustimmung des französischen und des niederländischen Volkes verfehlte.

Die größten Schwierigkeiten mit der Ratifizierung waren eigentlich eher von Dänemark, Großbritannien, Polen und der Tschechischen Republik erwartet worden – also von zwei Altmitgliedern der Union, in denen die Widerstände gegen die Vertiefung des Integrationsprozesses von jeher besonders stark ausgeprägt sind, und von zwei ostmitteleuropäischen Neumitgliedern, deren Regierungen sich schwer damit tun, weitere Teile ihrer mit dem Ende des Kalten Krieges erst wieder gewonnenen Souveränität an die europäischen Institutionen abzugeben. Dennoch wurde der Ratifizierungsprozess ostentativ weiterbetrieben. Im ersten Halbjahr 2007 gab es intensive Bemühungen, den Ratifizierungsprozess in Frankreich und in den Niederlanden noch einmal anzukurbeln und die Zustimmung zum Verfassungsentwurf in London, Prag und Warschau schmackhaft zu machen.

Das Ergebnis dieser Bemühungen war der Reformvertrag von Lissabon. Im Sommer 2008 scheiterte auch dieser Vertragsentwurf. Das in Irland für die Vertragsratifizierung vorgeschriebene Referendum verfehlte die erforderliche Mehrheit. Das Schicksal des Reformvertrags ist offen. Die näheren Umstände und der historische Kontext, der die Akteure in den Staaten der Union und im Brüsseler Politikbetrieb selbst dazu bewog, der Union eine förmliche Verfassung zu geben, sollen in den folgenden Überlegungen nicht interessieren. Hier geht es vielmehr darum, die Strukturmerkmale der Europäischen Union zu verdeutlichen.

Dafür ist es ohne Belang, ob und wann der aktuelle Reformvertragsentwurf oder ein anderer in Kraft tritt. Der Verfassungsvertrag wie auch der Reformvertrag werden im Folgenden gleichermaßen als europäisches Verfassungsprojekt erörtert. Die Europäische Union, so der Ausgangspunkt dieser Betrachtung, ist ein hybrides Gebilde. Sie verkörpert europäische Staatlichkeit und eine dicht gewirkte und regional konzentrierte Form internationaler Regime.

Die vertrauten und politikwissenschaftlich bewährten Konzepte des Staates und des internationalen Regimes verdeutlichen zum einen die Statik der Europäischen Union, und sie erlauben zum anderen ein Urteil, ob ein Reformprojekt wie die europäische Verfassung – oder der Reformvertrag – die Erwartung eines politischen Neuanfangs einlösen könnte.

2. Der Status quo: Die Union auf dem Stand des Nizzaer Vertrages


In Simon Hix’ Standardwerk über die Europäische Union heißt es, die Union bilde ein politisches System und besitze ein spezifisches Regierungssystem, sie stelle aber keinen Staat dar (Hix 2005: 2ff.). Der scheinbare Widerspruch dieser Aussage löst sich rasch auf, wenn man bedenkt, dass der Begriff state im Englischen die organisierte Staatsgewalt in Gestalt von Bürokratien und Beamten betont, wohingegen mit government das umfassendere Regierungssystem einschließlich Parlament und politischer Führung bezeichnet wird. Hix’ Unterscheidung hilft also nicht wirklich weiter.

Eigentlich sagt er nur, dass die Union die typischen Institutionen des modernen Verfassungsstaates besitzt, dass es aber keine europäischen Polizisten, Soldaten, Katasterbeamten, keine europäischen Sozialämter und Steuerbehörden gibt. Die Union überlässt das Verwalten ihrer Rechtsordnung den Mitgliedstaaten. Wenn auch nicht in diesem Umfang, so lässt sich Ähnliches übrigens auch in Deutschland beobachten, wo weitestgehend die Länder das Recht des Bundes anwenden.