Lotti Latrous - Bangen und Hoffen im Slum von Abidjan

von: Gabriella Baumann-von Arx

Wörterseh Verlag, 2011

ISBN: 9783037635124 , 256 Seiten

3. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Lotti Latrous - Bangen und Hoffen im Slum von Abidjan


 

Das Vorwort


Die schönsten Geschichten beginnen mit drei Wörtern: »Es war einmal …«

Also: Es war einmal eine junge Schweizerin namens Lotti, die sich in einem kleinen Café in der Innenstadt von Genf bis über beide Ohren in einen jungen Tunesier verliebte. Er hieß Aziz und studierte Maschineningenieur. Schon kurz nach dem ersten langen Kuss starb, vollkommen unerwartet, der Vater von Aziz. Aziz wurde zu Hause gebraucht. Damit er weiterstudieren konnte, verzichtete Lotti auf ihre Ausbildung zur Krankenschwester. Sie ging als Schwesternhilfe arbeiten und konnte so das Geld dazuverdienen, das Aziz’ Familie das Überleben garantierte. Lotti, 1953 geboren, war damals siebzehn Jahre alt, Aziz sechs Jahre älter.

Als Aziz fertig studiert hatte, machten die beiden inzwischen Verheirateten eine lange Reise. Diese führte sie – in einem alten, eigenhändig zum »Wüstenmobil« umgebauten Renault 4 – nicht nur nach Tunesien, sondern auch mitten durch die Sahara nach Abidjan. Dass die Wirtschaftsmetropole der Elfeinbeinküste Jahre später zu einem wichtigen Wendepunkt in ihrem gemeinsamen Leben werden würde, konnten die beiden damals noch nicht wissen.

Wieder zurück, meldete sich Aziz auf ein Inserat der Firma Nestlé, die Maschineningenieure suchte, die eine Auslandkarriere machen wollten. Es sollte seine Lebensstelle werden. Kurz bevor das junge Ehepaar für die Firma nach Saudi-Arabien zog, bekam es 1979 das erste Kind. Einen Sohn. Selim. Sechzehn Monate später, 1981, erblickte Sonia in Jeddah das Licht der Welt. Nach dreieinhalb Jahren wurde Aziz nach Nigeria versetzt, und siebeneinhalb Jahre später siedelte die Familie für Nestlé nach Kairo über. Sarah, die Nachzüglerin – 1989 in Nigeria geboren –, war damals gerade neun Monate alt.

Der Familie ging es in jedem Land sehr gut, man hatte Koch und Chauffeur, Gärtner und Hausboy, wohnte in klimatisierten Räumen und erfrischte sich im eigenen Swimmingpool. Dort hätte man sich auf einem silbernen Serviertablett Longdrinks servieren lassen können, wenn man auf so etwas Wert gelegt hätte. Aber der ganze Luxus interessierte weder Lotti noch Aziz, veränderte weder sie noch ihn. Im Gegenteil, beide waren sich bewusst, dass sie und ihre Kinder einen hohen Preis bezahlten. Den der Heimatlosigkeit.

Nach fünfeinhalb Jahren Kairo wurde Aziz nach Abidjan gerufen. Lotti wollte um keinen Preis in die Elfenbeinküste. Nicht weil ihr dieses Land nicht gefallen hätte, sondern weil sie nicht schon wieder packen wollte. Sie begann darunter zu leiden, ihrer Familie immer wieder von neuem eine Heimat schaffen zu müssen. Sie wollte sich ihre Wurzeln nicht wieder ausreißen lassen. Sie fühlte sich in Kairo glücklich. Sehr glücklich. So glücklich, dass sie bleiben wollte. Nicht für ein weiteres Jahr oder zwei, nein für immer. Nie mehr weg, das wollte sie.

Mann und Kinder verdauten den erneuten Umzug bestens, Lotti nicht. Sie wurde sehr unglücklich. So unglücklich, dass sie schließlich selbst darüber erschrak. Es war dieses Erschrecken, das sie dazu brachte, endlich doch noch in Abidjan Fuß zu fassen. Sie begann im Mutter-Teresa-Spital Aidskranke zu pflegen. Später ging sie, zusammen mit einem afrikanischen Arzt, in die Slums, um die Ärmsten der Armen medizinisch zu versorgen.

Nicht lange, da bat Lotti Aziz, ihr dabei zu helfen, in Adjouffou, einem der Elendsviertel Abidjans, ein Zentrum für ambulante Behandlungen zu eröffnen. Aziz schrieb Bettelbriefe an andere Direktoren ausländischer Firmen mit Sitz in Abidjan, kaufte mit dem gespendeten Geld ausrangierte Schiffscontainer, ließ für diese Fundamente in den Boden treiben. Das so entstandene Ambulatorium nannte Lotti Centre Espoir, Zentrum der Hoffnung.

Kurz nach dessen Eröffnung im Februar 1999 erhielt Aziz von Nestlé die Nachricht, man brauche ihn – Ironie des Schicksals – in Kairo! Aziz reiste zum Firmensitz nach Vevey, erklärte, warum er unmöglich zurückgehen könne, und Nestlé erklärte ihm, dass man nicht gewillt sei zu diskutieren, denn man brauche ihn in Kairo für den Aufbau einer neuen Firma. Das könne, meinte Aziz, auch ein anderer machen. Das könne, entgegnete man ihm, kein anderer, denn kein anderer mit seinem Format spreche Arabisch.

Aziz überlegte sich zu kündigen, aber das Risiko war ihm zu groß, schließlich würde die Ausbildung der drei Kinder noch einiges kosten.

Lotti und Aziz diskutierten nächtelang und fanden eine Lösung: Aziz würde schon mal nach Kairo reisen, Lotti und die Kinder würden noch so lange in Abidjan bleiben, bis die beiden Älteren ihr Abitur hatten. Nach diesen sechs Monaten siedelten Selim und Sonia, wie schon längst geplant, für ihr weiteres Studium in die Schweiz über und Lotti und Sarah kamen nach Kairo, von wo aus Lotti alle zwei Monate für einen Monat nach Abidjan fliegen wollte.

In der Theorie eine gute Idee. In der Praxis schlicht nicht lebbar. Lotti verlor ihren Lebenssinn, Aziz über zwanzig Kilo an Gewicht. Die Kinder verloren ein glückliches Elternpaar. Eines Tages nahm Aziz Lotti in den Arm und sagte: »Bevor meine Liebe zu dir sich in Hass verwandelt, tu, was du tun musst, und komm dann nach Kairo, wenn du kommen möchtest, und nicht dann, wenn du meinst, kommen zu müssen.«

Sarah war damals neun, und es gab zwei Gründe, warum Lotti sie »verlassen« konnte. Der erste hieß Aziz. Lotti wusste, dass Sarah bei ihm – auch ohne eine ständig präsente Mutter – bestens aufgehoben war. Der zweite Grund war eine Begegnung, die Lotti nicht mehr aus dem Kopf ging und die sich in der Zeit zugetragen hatte, als Lotti noch fest dazu entschlossen war, sich in Abidjan nicht zu verwurzeln.

Lotti war mit Einkäufen nach Hause gekommen. Unter vielem anderem hatte sie drei Kilo Fleisch, zwei Kilo Karotten, zwei Kilo Zucchetti und zwei Kilo Teigwaren eingekauft, die der Koch zu Tierfutter verarbeiten sollte. Die Familie hatte zwei Hunde, und da Trockenfutter importiert wurde und deshalb sehr teuer war, kamen die Vierbeiner in den Genuss eines für sie alle drei Tage neu gekochten Menüs. Als Lotti die ganzen Waren in die Küche bringen wollte, hielt sie der Wachmann, der rund um das Haus zum Rechten schaute, auf und sagte, es stehe ein kleines Mädchen vor der Tür, das sie sprechen wolle.

Das Mädchen war etwa fünf Jahre alt, es steckte in verdreckten Lumpen und hatte Läuse auf dem Kopf. Es war bis auf die Knochen abgemagert, seine Augen hatten jeden Glanz verloren, seine Haut war mit Mückenstichen übersät. Es streckte, als es Lotti sah, die Hand aus und sagte: »Tanti, ich habe Hunger, hast du mir ein Stück Brot?«

Und »Tanti«, so werden Frauen in Afrika oft genannt, kniete sich zu ihm runter, strich ihm über die Wange und bat es zu warten. Lotti ging in die Küche und kam mit einer mit Lebensmitteln gefüllten Tasche zurück. Die Augen des Mädchens wurden sehr, sehr groß. Vor lauter Überraschung konnte es kaum mehr Adieu sagen. Lotti schaute dem Mädchen lange nach. In ihrem Kopf Fragen. Fragen, die sie nie mehr loslassen sollten: »Warum kriegen Hunde in einem Land, in welchem Kinder verhungern, königlich zu fressen?« Und: »Wer oder was ist dafür verantwortlich, dass ich in der Schweiz geboren wurde und die Mutter dieses Mädchens in Afrika?« Schließlich: »Wie geht man mit unfassbarem Elend um?« Langsam, aber sicher kristallisierte sich dann der alles entscheidende Satz heraus: »Solange man das Elend nicht gesehen hat, ist es okay, sich ihm zu entziehen.«

Sarah, die Jüngste, kam mit dem Entscheid ihrer Mutter, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen, von allen inner- und außerhalb der Familie am besten klar. Sie reiste in ihren Ferien nach Abidjan und freute sich ganz einfach, wenn ihre Mutter wieder mal zu Besuch nach Hause kam. Und dann gab es da noch diesen fixen Tag im Jahr, der das Band zwischen Mutter und Tochter immer wieder festigte: der dreißigste Mai. Sarahs Geburtstag. Kein Elend dieser Welt konnte Lotti davon abhalten, diesen Tag in Kairo zu verbringen.

Bald war für Lotti klar, dass sie nicht mehr in der kleinen Wohnung, die sie außerhalb von Adjouffou gemietet hatte, leben wollte, sondern mittendrin im Slum. Aziz zeichnete Pläne und veranlasste, dass das Ambulatorium um einen Stock erhöht wurde. Sobald der kleine Bau fertig war, bezog Lotti die Wohnung, die aus einem schmalen Gang, zwei Zimmerchen, einer Kochnische und einem winzigen Bad besteht. Am Tag arbeitete sie und war zufrieden, an manchen Tagen gar glücklich, aber in der Nacht weinte sie oft. An der Wand hingen Fotos ihrer Familie und ein Brief ihrer Jüngsten. Er endet mit den Worten: »Ich liebe dich, Mama, und ich werde dich immer lieben. Immer! Deine Sarah.«

Drei Jahre nach der Eröffnung des Ambulatoriums sagte Aziz anlässlich eines seiner zahlreichen Besuche bei Lotti, es werde Zeit, ein Spital für die Sterbenden zu bauen. Lotti wusste, dass er recht hatte. Sie fand gut dreihundert Meter vom...