Lebensanschauung

von: Georg Simmel

Jazzybee Verlag, 2012

ISBN: 9783849617110 , 424 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 0,99 EUR

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Lebensanschauung


 

II. Die Wendung zur Idee


 

Bei dem Wort "Welt" im weitesten, zusatzlosen Sinne glaubt das Populäre Bewusstsein die Summe aller Dinge und Geschehnisse zu denken, die überhaupt wirklich sind, uns erfassbar oder nicht.

 

Tatsächlich aber denkt es noch etwas ganz anderes dabei: Wäre uns nämlich selbst die Unermesslichkeit der Weltinhalte Stück für Stück gegeben, so hätten wir eines und noch eines und noch eines - allein dass sie alle zusammen "eine Welt" bilden, ist etwas, was zu diesem bloßen Dasein des vielen Einzelnen noch hinzukommt, eine Form, in die es gefasst werden muss.

 

Der Geist erst vermag alledem eine Einheit zu schaffen, es in ein Netz, das er selber gesponnen hat, einzufangen.

 

Wenn wir von "Welt" sprechen, so meinen wir einen Gesamtumfang, von dem uns nur ein verschwindender Teil seiner Inhalte zugängig ist - was gar nicht anders zu erklären ist, als dass wir irgendwie im Besitz der Formel sind, die auch das Nichtbekannte dem Bekannten hinzuzufügen gestattete, so dass es mit diesem eben zu der Einheit einer Welt zusammenginge.

 

Welt im vollen Sinne ist also eine Summe von Inhalten, die vom Geiste aus dem isolierten Bestande jedes Stückes erlöst und in einen einheitlichen Zusammenhang gebracht ist, in eine Form, die Bekanntes und Unbekanntes zu umschließen imstande ist.

 

Nun nützt es aber noch nichts zu sagen: dies alles ist Einheit und also eine Welt, da Einheit schlechthin ein ganz ohnmächtig abstrakter Begriff ist.

 

Er kann nur dadurch realisiert werden, dass eine bestimmte Einheit, ein angebbares Prinzip, ein irgendwie differenziertes Gesetz, eine Färbung oder Rhythmik, ein nachfühlbarer Sinn die einzelnen Realitäten zusammenfasst.

 

Zu jener populären "Welt" nun wirken wahrscheinlich eine ganze Reihe solcher Einheit-schaffenden Prinzipien zusammen: Raum, Zeit, allgemeine Wechselwirkung, Verursachtheit durch einen göttlichen Schöpfer.

 

Empfänden wir diese nicht als allgemein gültige Schemata, denen alle Wirklichkeiten unterstehen und die, über jede einzelne hinweggreifend, sie mit jeder anderen einzelnen in Verbindung setzen, so hätten wir lauter einzelne Dinge, aber nicht eine Welt, also auch nicht eine Welt.

 

Philosophische "Welt"-Anschauungen entstehen, indem diese noch etwas diffuse Einheit sich in scharf bestimmte, exklusive Höchstbegriffe konzentriert.

 

Mit solchen: des Seins oder des Werdens, der Materie oder des Geistes, der Harmonie oder des durchgängigen Dualismus, des Zweckes oder der Göttlichkeit und vielen anderen treten die Philosophen an die Wirklichkeit, die gekannte wie die noch ungekannte, heran (gleichviel, ob diese Begriffe ihrerseits schon aus Einzelerfahrungen gewonnen sind), und indem je ein solcher Begriff die bestimmende, aneignende Kraft ihres Schauens ist, formt sich ihnen die bloße Summe der Wirklichkeiten zu einer Welt.

 

Dass die Philosophen mit der Einseitigkeit ihrer Prinzipien die Welt vergewaltigen, ist ein falsch formulierter Vorwurf. Denn durch derartige Prinzipien kommt die Welt überhaupt erst zustande - wobei natürlich das einzelne unzulänglich, für die Gegebenheiten zu eng, in sich widerspruchsvoll sein kann.

 

Dann bringt es eben keine Welt zustande. Es gibt dann vielleicht eine nach einem besseren Prinzip, aber ohne solche Einseitigkeit gibt es überhaupt keine.

 

Die Philosophen vollziehen damit nur in entschiedenerer, freilich auch jeweils einseitigerer Begrifflichkeit, was ein jeder andere tut, wenn er von der Welt spricht.

 

Welcher Leitbegriff nun jeweils dem einzelnen Denker seine Welt als solche schafft, hängt ersichtlich von seinem charakterologischen Typus ab, von dem Weltverhältnis seines Seins, das das Weltverhältnis seines Denkens begründet.

 

Allein nun gibt es noch einen anderen Typus von Begriffen, mit denen wir Betätigungsarten des Geistes benennen, so umfassende, dass durch ihre Formungskräfte die prinzipielle Unendlichkeit möglicher Inhalte zu je einer, durch bewusst besonderen Charakter vereinheitlichten "Welt" zusammenwächst.

 

Es handelt sich zunächst um die großen Funktionsarten des Geistes, durch die er (präsumtiver Weise) die identische Totalität von Inhalten zu einer jeweils in sich geschlossenen, einem unverkennlichen Gesamtprinzip untertanen Welt entwickelt: die Welt in der Form der Kunst, in der Form der Erkenntnis, in der Form der Religion, in der Form der Wert und Bedeutungsabstufung überhaupt.

 

Rein ideell angesehen kann kein Inhalt sich dem entziehen, sich erkennen zu lassen, künstlerische Formung anzunehmen, religiös ausgewertet zu werden.

 

Diese Welten sind gegenseitig keiner Mischung, keines Übergreifens, keiner Kreuzung fähig, da jede ja schon den ganzen Weltstoff in ihrer besonderen Sprache aussagt, obgleich es selbstverständlich ist, dass im einzelnen Grenzunsicherheiten entstehen, und dass ein von einer Kategorie geformtes Weltstück in die andere hineingenommen und hier von neuem als bloßer Stoff behandelt werde.

 

Wir erblicken in jedem dieser Bezirke eine innere, sachliche Logik, die zwar Spielraum für große Mannigfaltigkeiten und Gegensätze gibt, aber doch auch den schöpferischen Geist an ihre objektive Gültigkeit bindet.

 

Und wir denken uns diese einmal geschaffenen Gebilde als in ihrem Sinn und Wert ganz unabhängig davon, ob und wie oft sie von Individuen aufgenommen und seelisch nachrealisiert werden.

 

Als Werke oder Heiligkeiten, als Systeme oder Imperative haben sie einen selbstgenugsamen, von innen her zusammengehaltenen Bestand, mit dem sie sich sowohl aus dem seelischen Leben, aus dem sie gekommen sind, wie aus dem anderen, das sie aufnimmt, gelöst haben.

 

Jenen Stoff nun, den Weltstoff, können wir in seiner Reinheit nicht ergreifen, vielmehr heißt Ergreifen schon, ihn in eine jener großen, in ihrer vollen Auswirkung je eine Welt bildenden Kategorien einstellen.

 

Wenn wir z. B. die Farbe Blau vorstellen, so ist sie etwa ein Element der sinnlich wirklichen Welt, die der Ort unseres praktischen Lebens ist. Diesem Sinne ihrer gehört wahrscheinlich meistens auch das Phantasiebild an, in dem wir die Farbe nur von den Begleitumständen gelöst haben, mit denen die Wirklichkeitswelt sie verwebt.

 

Innerhalb der Begrifflichkeit der reinen Erkenntniswelt aber ist das Blau in ganz anderem Sinne bedeutsam: da ist es eine bestimmte Schwingung von Ätherwellen oder eine bestimmte Stelle im Spektrum oder eine bestimmte physiologische oder psychische Reaktion.

 

Wieder anderes besagt es als Element der subjektiven Gefühlswelt, in den lyrischen Empfindungen angesichts des blauen Himmels oder der blauen Augen der Geliebten.

 

Es ist dasselbe und seiner weltmäßigen Bedeutung nach doch völlig anders orientierte Blau, wenn es in den religiösen Bezirk gehört, etwa als die Farbe des Mantels der Madonna oder überhaupt als Symbol in einer mystischen Welt.

 

Der in dieser Weise zum Element sehr mannigfacher Welten geformte Stoff ist nicht etwa, weil er ohne solche Formung unergreifbar ist, ein "Ding an sich"; er ist nichts Transzendentes, das zur Erscheinung würde, indem es erkannt oder gewertet, religiös eingeordnet oder künstlerisch ausgestaltet wird.

 

Sondern in den so bezeichneten Gesamtbildern ist der Weltstoff jeweils ganz und gar und nicht auf Borg von einer selbständigeren Existenz her enthalten. Die "Inhalte" haben eine Existenz sui generis.

 

Sie sind weder "real", da sie das ja erst werden, noch eine bloße Abstraktion aus ihren mannigfachen Kategorisiertheiten, da sie nichts Unvollständiges sind, wie der abstrakte Begriff gegenüber dem konkreten Ding, noch haben sie das metaphysische Sein der "Ideen" Platos.

 

Denn obgleich er mit diesen auf dem Wege zu jenen "Inhalten" ist, so gelangt er nicht zu der Reinheit ihres Begriffes, weil er sie sogleich logisch intellektualistisch, also doch einseitig fasst. Er hält die logische Formung und Verbindung für die schlechthin reine, noch nicht spezifisch präjudizierte.

 

Wie ein Stück physischer Materie in beliebig vielen Formen erscheint, ohne irgend eine aber nicht existieren kann, und der Begriff seines reinen, formfreien Materie-Seins eine zwar logisch gerechtfertigte, aber in keiner Art von Anschauung vollziehbare Abstraktion ist - so etwa verhält sich das, was ich den Stoff der Welten nenne, die, von je einem Grundmotiv her, diesen Stoff...