Die Konzeption des 'noein' bei Parmenides von Elea

von: Maria Marcinkowska-Rosól

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2010

ISBN: 9783110217605 , 284 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 189,95 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Konzeption des 'noein' bei Parmenides von Elea


 

5 Zur Erlösung (S. 193-194)

5.1 Was ist im Hause der Göttin geschehen?

„Der voos der Menschen ist identisch mit dem Denken der Mischung des Kalten und Warmen“ – diese den Menschen und sein Denken auf die unbeständige, beseelte Materie reduzierende Feststellung scheint jede Vorstellung von einer innerlichen, spezifisch menschlichen Freiheit als bloße Illusion zu entlarven. Doch steht die Erkenntnis des Seienden, die dem Jüngling des Gedichtes zuteil wird, zu ihr nicht in krassem Widerspruch? Ein Mensch, für den die Formen denken, kann nur das aus ihnen Bestehende erkennen: das Warme und Kalte, das Helle und Dunkle, das Leichte und Schwere usw. Wie soll ihm die Erkenntnis dessen, was jenseits der physischen Qualitäten ist, was wirklich ist, möglich sein?

Die auf diese Frage erteilten Antworten lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Die Anhänger des ersten Interpretationstyps versuchen, die Vereinbarkeit der Konzeption des Denkens in Fr. 16 mit der dem Jüngling gewährten Erkenntnis des Seienden zu erweisen. Diesem Zweck dient die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Sein und Nichtsein einerseits und den beiden Formen der Doxa andererseits: Das Licht sei mit dem Seienden identisch (bzw. „entspreche“ ihm oder „repräsentiere“ es), die Nacht mit dem Nichtseienden. Aus den Angaben Theophrasts, dass die Erkenntnis auch bei Vorhandensein nur eines Elements stattfi nden kann (Leichnam) und dass die Erkenntnis „nach dem Warmen“ „besser und reiner“ ist, lasse sich folgern, dass „die Seele, in der das Feuer absolut vorherrscht, auch das Seiende allein erkennen würde und vom Meinen völlig frei wäre. Es ist die Seele, die in die reine Feuerregion der Sonne eingegangen ist“ (O. Gigon 1968, S. 287). H. Fränkel (1960, S. 177f.) interpretierte diese Transformation als eine ekstatische, zur Erkenntnis des Seienden führende Erfahrung:

[Parmenides wird] sich in den Augenblicken höchster Klarheit in seiner gesamten Person verwandelt und transfi guriert gefühlt haben [...]: er war dann nichts als ein lichthaftes Sein, das sich nur seines eignen Seins bewußt war, und alles Helldunkel der niederen Welt [...] war für ihn ‚verloschen und verschollen‘ (8.21). Wenn dieser Zustand vorüber war, sank er wieder in die gewöhnliche gemischte Wesensform zurück.

Dieser Zustand der „totalen Erleuchtung“ werde im Prooimion des Gedichts beschrieben, in dem der Jüngling ein das Reich „der Nacht, des sinnlichen und irdischen Verhaltens“ von dem „Reich des Lichts, der Sonne und der Wahrheit“ trennendes Tor durchfahre. Die Konzeption, nach der sich der Mensch mit Hilfe der Gottheit vom Element der Nacht befreit und zu reinem Licht wird, um das reine Licht des Seienden zu erkennen, weist jedoch mehrere Schwächen auf.