Josef Kainz - Zwischen Tradition und Moderne - Der Weg eines epochalen Schauspielers

Josef Kainz - Zwischen Tradition und Moderne - Der Weg eines epochalen Schauspielers

von: Judith Eisermann

Herbert Utz Verlag , 2010

ISBN: 9783831609130 , 429 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 42,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Josef Kainz - Zwischen Tradition und Moderne - Der Weg eines epochalen Schauspielers


 

III. Wien: Niederungen des Theateralltags – künstlerische Höhepunkte (S. 213-214)

1. Am Burgtheater (1899–1910)

1.1 Wien zur Jahrhundertwende


Seit Kindheit und Jugend von Josef Kainz, der in der Zeit von 1867 bis 1875 in Wien gelebt hatte, hat sich die Stadt entscheidend verändert, die Umgestaltung Wiens zu einer modernen Großstadt hatte Kainz nur in ihren Ansätzen mitbekommen. 1 – Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts findet eine enorme Zunahme der Bevölkerung statt: Hatte Wien 1861 lediglich 555 000 Einwohner, sind es 1884 bereits rund 700 000, bis 1899 hat sich die Einwohnerzahl mit 1,6 Millionen mehr als verdoppelt, 1911 wird erstmals die Zweimillionengrenze erreicht sein. 1890 sind lediglich 45 Prozent der Bevölkerung gebürtige Wiener, und so sind es vor allem Zuwanderer, die die Bevölkerungszunahme ausmachen:

Auf der Suche nach Beschäftigung und besseren Lebensbedingungen kommen Menschen verschiedenster sozialer Schichten und Nationalitäten in die Hauptstadt, die meisten von ihnen Tschechen, aber auch Ungarn, Polen, Ruthenen, Slowenen, Kroaten und Juden aus den östlichen Gebieten der Donaumonarchie. Die stetig wachsende Stadt stellt viele Anforderungen, zahlreiche Modernisierungsmaßnahmen werden ergriffen: 1874 wird der Zentralfriedhof eröffnet, ein Jahr darauf ist die Donauregulierung im Wesentlichen abgeschlossen, die Wasserversorgung wird modernisiert, die Elektrifizierung vorangetrieben – das Burgtheater ist der erste mit elektrischem Licht ausgestattete Ringstraßenbau –, Schulen und Krankenhäuser entstehen.

Eine Veränderung, die das Stadtbild nachhaltig prägen wird, ist der Bau der Ringstraße, der Anfang der 1860er Jahre beginnt und 1888 mit Fertigstellung des neuen Burgtheaters seinen Abschluss findet. Um 1900 hat das Stadtbild seine entscheidende Gestalt erhalten: Während die Innenstadt zunehmend ihre Funktion als Wohngegend verliert und sich eine City bildet, die von Geschäfts- und Verwaltungshäusern dominiert wird, nimmt in anderen Bezirken der Wohnungsbau zu.

Die Jugend von Josef Kainz ist in die Blütezeit des österreichischen Liberalismus gefallen, in „das goldene Zeitalter der Sicherheit“, wie es Stefan Zweig rückblickend und aus bürgerlicher Perspektive bezeichnet: Eine Vielzahl technischer Innovationen und der wirtschaftliche Aufschwung bewirken einen nahezu unerschütterlichen Glauben an Fortschritt und Rationalität, mit Inkrafttreten der Dezemberverfassung von 1867, die zwar zahlreiche Schwachstellen aufweist, jedoch das Fundament des Rechtsstaats legt, gelangen die Liberalen an die Macht.

Doch das Sekuritätsgefühl erleidet erste Erschütterungen, als es wenige Tage nach Eröffnung der Weltausstellung am 9. Mai 1873 zum „Großen Krach“ an der Wiener Börse kommt, viele Anleger verlieren große Teile ihres Vermögens, auch die kleinen Sparer sind betroffen. Der Börsenkrach erschüttert den Glauben an den unaufhaltsamen Fortschritt, es entsteht ein starkes Misstrauen gegen Wirtschaft und Liberalismus, das sich zuweilen auch mit antisemitischen Ressentiments verbindet.

Der Niedergang der Herrschaft des Liberalismus ist eingeleitet, die Krise um die Okkupation Bosnien-Herzegowinas bringt die Liberalen schließlich endgültig zu Fall, bei den Wahlen 1879 erleiden sie eine vernichtende Niederlage. Aus dem liberalen Lager, in dem verschiedene, miteinander unvereinbare Tendenzen zusammengefasst waren, entwickeln sich die späteren Massenparteien. Antikapitalismus, Antiliberalismus und Antisemitismus bilden die ideologischen Grundlagen für die Deutschnationalen unter Georg Ritter von Schönerer ebenso wie für die Christlichsozialen.

Prägende Gestalt dieser Partei, die sich vor allem an das Kleinbürgertum wendet, ist Karl Lueger, 1897 tritt er das Amt des Bürgermeisters von Wien an, das er bis 1910 innehaben wird. Die in der Doppelmonarchie vergleichsweise spät einsetzende Industrialisierung verändert das soziale Gefüge der Gesellschaft entscheidend: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bringt die Landflucht zahlreiche Bauern als Lohnarbeiter in die Stadt, Ende der 1880er Jahre gelingt es schließlich Victor Adler, verschiedene Strömungen und Organisationen in der Sozialdemokratischen Partei zu vereinen.