Mein Herz, das schlägt, gehört nicht mir

von: Aline Feuvrier-Boulanger

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2009

ISBN: 9783838700052 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 4,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Mein Herz, das schlägt, gehört nicht mir


 

Das Holzschuhherz


Seit Ende Dezember vergeht keine Nacht mehr, ohne dass ich Albträume habe. Ich schlafe nicht mehr.

Bereits nach den Feiertagen war ich ein wenig müde. Die Familie um mich herum bemerkte es, ohne sich sonderlich zu beunruhigen. In ihren Augen, ebenso wie in meinen – und auch denen des Hausarztes –, liefert der Abiturstress eine hinlängliche Erklärung für diese seltsame Erschöpfung, die mich packt, sobald ich morgens aus dem Bett steige. Ich lege meine Wege mit Mühe zurück, und mein Blutdruck ist niedrig. Diese ständige Erschöpfung verwirrt mich ein wenig, aber ich habe für mein Abitur gearbeitet, und der Arzt hat mich schließlich davon überzeugt, dass nichts Gravierendes vorliegt. Er hörte mein Herz ab wie üblich und konnte nichts Ungewöhnliches feststellen.

Als der erste Ultraschall von meinem Herzen gemacht wurde, war ich sechs Jahre alt, und man erklärte mir nicht viel dazu. Ich wusste noch nicht, welche Gefahr mein väterliches Erbe für mich bedeutet: Mein Vater und mein Großvater sind beide an der gleichen seltenen Krankheit gestorben, am »cœur en sabot«, dem sogenannten »Holzschuhherz«. Dabei wächst das Herz nur auf einer Seite, was ihm ein wenig die Form eines Holzschuhs verleiht.

Mein Vater war neunundzwanzig Jahre alt, als er starb, und sein Vater starb auf den Tag genau ein Jahr später mit gerade einmal siebenundfünfzig Jahren. Zum Zeitpunkt ihres Todes wusste noch niemand, dass sie ein besonderes Gen in sich trugen, das ein degeneriertes Wachstum des Herzens zur Folge hat. Es ruft einen irreparablen Herzklappenschaden hervor und führt schließlich zur Zerstörung des Herzens. Auch meine Urgroßmutter war, wie wir später herausgefunden haben, dieser Krankheit zum Opfer gefallen. Aber sie starb erst mit fünfundsiebzig Jahren, sodass ihr Tod damals als ganz »normaler« Sterbefall angesehen wurde.

Da mein Vater so jung gestorben war, machte sich meine Mutter schon sehr früh Sorgen um mich. Mein Stiefvater war einer Meinung mit ihr, aber sie taten alles, um ihre Ängste vor mir zu verbergen. Dieses teuflische Gen lässt sich nicht bestimmen. Es ist, als schlummere es lange Zeit, um dann mit einem Mal anzuklopfen. Den Medizinern ist es bisher nicht gelungen, es zu isolieren oder zu verstehen. Die genetische Forschung steht erst am Anfang, und so bezeichnet man dieses Symptom schlicht als »seltene Erbkrankheit«, »cœur en sabot«, »Holzschuhherz« oder »erblich bedingte Herzmuskelentzündung«. Außer der Verordnung von einigen Medikamenten kann man nicht viel dagegen tun.

Als ich sechs Jahre alt war, sagte mir meine Mutter noch nichts Genaues – schließlich verschreckt man ein Kind in diesem Alter nicht unnötig. »Wir gehen zum Arzt, damit er eine Kontrolluntersuchung macht.« Lediglich an diesen Satz erinnere ich mich. Er fällt zeitlich mit dem Auftauchen meines Stiefvaters zusammen.

Eines Tages stellte meine Mutter mir einen »Freund« vor, und noch am gleichen Abend versteifte ich mich darauf, dass er bei uns bleiben sollte, und beteuerte, dass ich ihn als Papa haben wollte! Am nächsten Tag zog er bei uns ein. Ich wollte einen Papa haben, und ich habe ihn bekommen. Ich wollte auch einen kleinen Bruder haben und habe ihn bekommen. Dieses – vielleicht anmaßende – Gefühl, im Leben zu bekommen, was ich haben wollte, begleitete mich lange Zeit.

Als mein Stiefvater sich mit unserer Familiengeschichte vertraut gemacht hatte, und vor allem, als er von dem frühen, qualvollen Tod meines Vaters gehört hatte, sagte mein neuer Papa: »Wir müssen Aline untersuchen lassen. Mit ihrem Vater ist etwas geschehen, das wir nicht verstehen.«

Er fragte meine Großmutter väterlicherseits und stellte Nachforschungen an, um herauszufinden, welche Bedrohung über mir schwebte. Mein Vater war Angestellter in einem großen Kaufhaus gewesen, wo er für eine Abteilung zuständig war – bis zu jenem Tag im Jahr 1989, als die Krankheit mit einem Schlag ausbrach. Eine ungeheure Erschöpfung packte ihn, unentwegt geriet er außer Atem. Die Untersuchung seines Herzens führte dazu, dass er ins Krankenhaus kam. Nachdem man verschiedene medikamentöse Behandlungen ausprobiert hatte, ohne irgendein Ergebnis zu erzielen, befiel meine Mutter der Verdacht, dass ihr Ehemann als Versuchskaninchen dienen könnte, und sie wollte ihn nach Paris verlegen lassen. Die Ärzte entschieden jedoch, ihn lediglich in ein anderes Krankenhaus zu verlegen, das größer und besser ausgestattet war, aber auch in der Lorraine lag. Ein längerer Transport wäre zu gefährlich gewesen. Leider war es da schon zu spät. Das Einsetzen eines Kunstherzens konnte ihn nicht mehr retten. Heute weiß ich, dass dies möglich gewesen wäre, wenn die Ärzte bei seinem ersten Krankenhausaufenthalt nicht hartnäckig die Entscheidung für eine Herztransplantation abgelehnt hätten, um zunächst einmal Medikamente an ihm zum Einsatz zu bringen. Am Ende sollte mein Vater zwar noch transplantiert werden, aber da war es zu spät: Die lebenswichtigen Organe waren schon zu sehr geschwächt. Er lag mit geöffneter Brust in seinem Bett, aber dieses künstliche Herz konnte ihm nicht mehr helfen. Sein Organismus hatte sich im Kampf gegen den unbekannten Feind verbraucht. Nach vier qualvollen Monaten ist er gestorben. Da war ich drei Jahre alt.

Als Kind wusste ich fast nichts von den Umständen, unter denen er gestorben war. Er hatte eine Herzkrankheit, Punkt. Lange hielt Mama all dies von mir fern. Erst sehr viel später erzählte sie mir, wie sehr er gelitten hatte und wie wütend sie auf diese provinzielle hochnäsige Ärzteschaft gewesen war. Ich habe keine Erinnerungen an ihn, nicht einmal schemenhafte. Nur die Fotos zeigen mir, dass ich ihm ähnlich sehe. Ich hatte das große Glück, eine sehr erfüllte und harmonische frühe Kindheit erlebt zu haben. Ich wusste, dass ich wie alle anderen auch einen Vater gehabt hatte und er zu meinem Leben gehörte, bevor er allzu früh aus dem Leben ging. So war es eben: Ich hatte keinen Papa mehr, ich hatte eine Mama. Das erklärte ich auch in der Schule, bis mein neuer Papa kam, den ich voller Begeisterung aufnahm, ebenso wie später meinen kleinen, so sehnlich herbeigewünschten Bruder.

Meine Erinnerungen setzen ein mit meinem Stiefvater, der mich an der Hand hält und zum Kardiologen begleitet, wo die erste Ultraschallaufnahme gemacht wird. Da war ich sechs Jahre alt. Es ist nichts. Nichts! Mein kleines Herz ist ganz ruhig. Auch mit sieben und acht Jahren – nichts. Mit neun, zehn Jahren – auch nichts. Ich habe mich an die jährlichen Ultraschallaufnahmen und auch an das immer gleiche Ergebnis gewöhnt: »Nichts.« Ich bin eher ein ruhiges, passives Kind, das wenig spricht und sich nicht viel bewegt. Ich zeichne, schreibe und spiele mit meinem kleinen Bruder. Mit zunehmendem Alter verändert sich das. In der Oberstufe wurde mein Redebedürfnis größer – wie bei allen Jugendlichen. Ich kicherte und tuschelte mit meiner besten Freundin.

Zum großen Kummer meiner Mutter war ich anders als sie, die »in meinem Alter viel mehr gearbeitet hat«, keine sehr strebsame Schülerin. Ich begnügte mich damit, vor dem Einschlafen den Stoff ein wenig zu wiederholen und ausreichend zu beherrschen.

Die Ultraschallaufnahmen, die über die Jahre gemacht werden, wiegen die Familie in Sicherheit, als ich plötzlich im Alter von dreizehn Jahren Atemnot verspüre.

Ich erinnere mich noch ganz genau an jenen Tag. Ich laufe einen kleinen Hügel hinauf, auf dem meine Pferde stehen. Diesen Weg gehe ich sehr oft. Die Pferde habe ich zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt bekommen. Sie weiden in der Nähe des Hauses auf einer Wiese, zu der ein kleiner Weg führt. Es ist mir noch nie schwergefallen, ihn hinaufzulaufen. Wie gewöhnlich rennt mein kleiner Bruder vor mir her. Da muss ich plötzlich langsamer machen, das Atmen fällt mir schwer. Ich schnappe nach Luft und verstehe nicht, was mit mir los ist. Aber ich gehe weiter. Ob das nun gut oder schlecht ist, sei dahingestellt. Ich bin hartnäckig und hasse es, mich bemitleiden zu lassen. Also gehe ich weiter, auch wenn es mir ungeheuer schwerfällt. Schnaufend gehe ich starrköpfig weiter in der sicheren Annahme, dass diese seltsame Atemnot vorübergehen wird. Nicht für einen Augenblick denke ich an mein Herz. Ich habe die Vergangenheit immer ausgeblendet – den Tod meines Vaters ebenso wie die Herzuntersuchungen. Ich will nichts davon wissen. Ich bin schließlich nicht krank. Diese Möglichkeit kommt mir gar nicht in den Sinn.

Es sei denn …

Drei Tage zuvor hatte eine Impfung stattgefunden. Unser Arzt hatte immer gesagt: »Sie darf auf keinen Fall geimpft werden.« Aber diese Impfung wurde in der Schule obligatorisch durchgeführt. Meine Mutter hat nachgegeben – und sich im Nachhinein ewig Vorwürfe gemacht. Das Ergebnis war, dass mein Bruder und ich Fieber bekamen und mehrere Tage das Bett hüten mussten. Er war danach wieder der Alte, aber ich nicht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich ganz normal laufen können, und der Anstieg auf den kleinen Hügel hatte mir keinerlei Probleme bereitet, aber jetzt schleppte ich mich völlig atemlos hinterher.

»Was ist denn los, Aline?«

»Ich kann nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr.«

Als mein Stiefvater mich so nach Luft schnappen sah, bekam er Angst. Er brachte mich sofort zum Kardiologen.

Nach der Ultraschallaufnahme findet zwischen dem Arzt und meinem Stiefvater ein ernstes Gespräch statt: Diesmal ist mir klar, dass es Probleme gibt. Das Herz ist größer geworden. Dieses verflixte Holzschuhherz hat sich in mir eingenistet. Ich muss ein oder zwei Stunden auf der Untersuchungsliege ausharren, bis der Arzt mein Herz genau vermessen hat. Langsam begreife ich: »Da stimmt...