Lesereise Albanien - Die Möwe und der Freiheitskämpfer

von: Carola Hoffmeister

Picus, 2012

ISBN: 9783711751201 , 132 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Lesereise Albanien - Die Möwe und der Freiheitskämpfer


 

Unterwegs


Behar ist abergläubisch. Am Rückspiegel seines Minibusses baumelt ein Auge aus schillernd blauem Glas, es stellt das sogenannte Auge der Fatima dar und wendet den bösen Blick ab. Behar hat Angst vor diesem Schadenszauber und das Amulett deshalb immer dabei. Außerdem glaubt er, dass es Unheil bringt, zu oft das Bremspedal zu drücken. Die Energie beim Fahren werde gestört, und das bringe Pech. Behar lacht von einer Zahnlücke zur nächsten, wenn er das sagt. Er scherzt. Beobachtet man ihn, wird aber klar, dass ein Körnchen Wahrheit in seiner Aussage steckt. Behar ist Busfahrer. Er sitzt am Steuer eines Mercedes-Minibusses und rast über eine kurvige Gebirgsstraße im Süden Albaniens. Leitplanken gibt es nicht, nur einen wirklich tiefen Abgrund. Oftmals ist er viel zu schnell. Einige Fahrgäste haben Angst, anderen wird übel. Zu Behars Ehrenrettung muss man jedoch sagen, dass er die Strecke sehr oft fährt. Er kennt jede Serpentine, jeden Baum. Behar startet seine Tour um acht Uhr morgens in Vlora. Die Hafenstadt an der Adria befindet sich direkt gegenüber der italienischen Stadt Otranto. Einige Stunden später erreicht er Saranda, einen Ferienort unweit der Grenze zu Griechenland, in dem viele Albaner im Kommunismus die Flitterwochen verbracht haben. Zwischen beiden Städten liegen ungefähr hundertachtundzwanzig Kilometer Strecke. Das ist kaum mehr als die Entfernung zwischen Hamburg und Bremen, doch die Straße führt durch das Gebirge, ist an vielen Stellen unwegsam und gekrümmt wie ein DNA-Strang, sodass man nur mühsam vorankommt. Die Gebirgspässe öffnen sich mitunter zu spektakulären Postkartenansichten auf türkisblaues Wasser. Für die Schönheiten der Natur hat Behar allerdings keinen Sinn. Der kleine, drahtige Mann thront auf seinem gepolsterten Sitz und hat die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Seinen Blick richtet er starr geradeaus und umklammert das Steuer so fest, dass die Knöchel auf seinem Handrücken weiß hervortreten. Kurve um Kurve treibt er sein Vehikel den Cikes Maje hinauf, ein Bergmassiv direkt neben dem Meer. Sein rechtes Bein ist ausgestreckt und ruht reglos auf dem Gaspedal. Alle paar Sekunden führt er eine Zigarette zum Mund und saugt heftig am Filter. Ist die Zigarette nur noch ein Stummel, zündet er eine neue an. Durch den Mercedes wabert Rauch. Er umnebelt nicht nur Behar, sondern auch seine Gäste. Hinter ihm hat ein älteres Ehepaar Platz genommen, außerdem eine junge Frau in einer dünnen Leinenbluse. Immer, wenn der Wagen über ein Schlagloch rumpelt, wippen die Passagiere auf und ab, als säßen sie auf Sprungfedern. Keine Frage: Im Minibus nach Saranda zu fahren, ist strapaziös. Eine andere Möglichkeit existiert jedoch nicht. In den Süden Albaniens führen keine Eisenbahnschienen, und einen Landeplatz für Flugzeuge sucht man vergeblich. Wer an die einsamen Buchten der Adria gelangen möchte, muss den Bus oder den Pkw nehmen. Viele Menschen reisen mit sogenannten Furgons, das sind Sammeltaxen wie der Transporter von Behar. Eine Fahrt kostet ungefähr vierhundert Lek, umgerechnet fünfzig Cent. Die Furgons bieten eine günstige und vor allem schnelle Alternative zu regulären Linienbussen.

Am Wegesrand taucht plötzlich ein Bauer auf. Er trägt einen Overall und hat einen Leinensack über die Schulter geworfen. Behar fährt langsamer und lehnt sich zur Seite. Mit einem Ruck reißt er die Schiebetür auf. »Saranda!«, ruft er, seine Stimme krächzt. Der Bauer trabt los, steigt ein und reicht Behar ein paar Münzen. Behar steckt sie in seine Hosentasche, ohne im Gegenzug ein Ticket auszustellen. Tickets sind in vielen Furgons unüblich, es zählen das Vertrauen und das Wissen, wie viel für eine Strecke ungefähr zu zahlen ist.

In gemächlichem Tempo fährt Behar weiter. Der Albaner hat sich vor einigen Jahren als Busunternehmer selbständig gemacht. Fragt man ihn, ob er einen Personenbeförderungsschein besitzt, schüttelt er verständnislos den Kopf. Er weiß gar nicht genau, was das ist. Behar war vierzig Jahre alt, als er gelernt hat, Auto zu fahren, er hat es sich selbst beigebracht. Während des Kommunismus arbeitete er in einem Metallurgie-Kombinat in der mittelalbanischen Stadt Elbasan. Die Stahlfabrik hatte Staatschef Enver Hoxha in den Siebzigern mit Hilfe der Chinesen errichten lassen. Nach der Wende schloss der Arbeitgeber das Unternehmen und Behar verlor wie viele Kollegen seinen Job. Den Husten, ausgelöst durch Ruß und Rauch, hat er behalten.

An sein erstes Auto erinnert er sich gut: Es war ein roter VW Golf, der Kotflügel zerbeult, das Nummernschild abmontiert. An einem heißen Tag im Juni 1993 unternahm er mit Freunden eine Spritztour. Fünf Männer quetschten sich auf die Rückbank, zwei saßen auf dem Beifahrersitz. Sie eierten eine schnurgerade Landstraße entlang, vorbei an Eselskarren und Maisstauden. Alle schrien durcheinander. »Drück dieses Ding in der Mitte, nein, nicht das, weiter außen! Fahr schneller!« Plötzlich stotterte der Wagen, dann blieb er stehen. Niemand wusste, woran es lag. Die Männer begutachteten den Pkw von allen Seiten. Sie setzten sich nacheinander ans Steuer und drehten den Schlüssel im Schloss. Der Motor jaulte auf, sprang aber nicht an. Schließlich entdeckte einer eine schwarze Verschlusskappe zwischen Hintertür und Kofferraum: Das Benzin war alle.

Behar kichert, wenn er davon erzählt. Autos müssen ihm damals sehr merkwürdig vorgekommen sein. Sie waren im Kommunismus verboten. Anstelle von Pkws holperten Pferdekutschen über die Straßen, und das Klingeln der Fahrradglocken gehörte zu den lautesten Geräuschen des Alltags. Mit der Wende kamen die Autos. Die Vehikel waren den meisten ein Mysterium. Deutsche Magazine druckten zu jener Zeit Fotos, die sich über den Pkw als vermeintliches Symbol des Aufbruchs in Albanien lustig machten: Auf einem Bild etwa steht ein ausgeweideter Wagen. Die Räder sind abmontiert, Motorteile liegen auf der Erde. Zwei Beine ragen unter dem Gefährt hervor, um sie herum hat sich eine Öllache ausgebreitet. Die Botschaft: Bevor es losgeht, muss der Motor repariert werden – aber niemand weiß wie.

Inzwischen sind Autos in Albanien ein selbstverständlicher Anblick. Mehr als zweihunderttausend Albaner besitzen eines, also jeder Fünfzehnte. Die meisten Wagen sind in der Hauptstadt Tirana unterwegs und stammen von der Marke Mercedes. Es sind überwiegend betagte Veteranen der Landstraße, zehn, zwanzig, dreißig Jahre alte Modelle, die auf den holprigen und manchmal gar nicht vorhandenen Straßen des Balkans einen beschwerlichen Lebensabend meistern.

Für Behar war das Auto eine Möglichkeit, eine neue Existenz aufzubauen. Nachdem er seinen Job in der Stahlfabrik verloren hatte, schlug er sich eine Weile als Hilfsarbeiter auf Olivenplantagen durch. Von seinem Ersparten kaufte er schließlich einen gebrauchten Minitransporter. Mit ihm fährt er sieben Tage die Woche quer durch das Land und verdient damit so viel, dass er seine Frau und die Tochter ernähren kann. Auch dass zunehmend Touristen seine Heimat besuchen, merkt er an seinem Portemonnaie. Behar beugt sich nach vorne und schaltet die Klimaanlage an. Leider ist sie kaputt. Die ältere Dame fächelt sich Luft zu, ihr Mann tupft mit einem Taschentuch seine Stirn. Die junge Frau ist vor Übelkeit im Gesicht ganz weiß. Doch wer wollte sich beschweren? In Albanien unterwegs zu sein, war immer schon beschwerlich. Früher brauchten die Menschen für die gleiche Strecke einen ganzen Tag, heute dauert es nur ein paar Stunden. »Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass bei Reisen keinerlei Komfort erwartet werden kann«, schrieb die DDR 1958 in einem Werbeprospekt über das Land der Skipetaren. Die Wege bestanden hauptsächlich aus Schlaglöchern, und die Badebuchten an der Albanischen Riviera waren Strandschönheiten im Dornröschenschlaf. Die Bauern und Fischer, die dort wohnten, führten mit ihren Familien ein zurückgezogenes Leben, vollkommen abgeschnitten vom Rest der Welt. Diese Zeiten sind vorbei. In den letzten zwanzig Jahren wurden Straßen gebaut und asphaltiert. Die Grenzen sind offen und Touristen strömen an die dreihundertzwölf Kilometer langen, sonnengetränkten Küsten.

Behar beugt sich zur Seite und dreht das Autoradio lauter. Ein Folklorestück knistert aus den Boxen, die ältere Dame summt leise die Melodie mit. Als der Rhythmus schneller wird, schaltet Behar einen Gang höher und treibt den Wagen mit gedrücktem Gaspedal die Steigung hinauf. Kieselsteine wirbeln durch die Luft und schlagen an die Karosserie. Nach einer halben Stunde stoppt Behar. Er stellt den Motor ab und steigt wortlos aus. Es ist still, nur ein Kauz schickt seinen Ruf ins Tal. Behar hockt sich neben den Vorderreifen und verharrt eine Weile in dieser Position. Er klopft auf den Reifen, schüttelt den Kopf, klopft wieder auf den Reifen. Schließlich steht er auf und winkt den Bauern herbei. Sie wuchten einen Ersatzreifen aus dem Kofferraum und rollen ihn um den Wagen herum. Mit einem Kreuzschlüssel montieren sie das Rad ab und bringen das neue an. Dann geht es weiter, als wäre nichts geschehen. Kiefern und Fichten klammern sich an den Berghang, in ihren dürren Zweigen hängen Nebelschwaden wie feuchte Unterhemden. Die junge Frau hat ein Badelaken aus ihrer Korbtasche geholt und sich um die Schultern gelegt. Der Bauer döst mit Kopfhörern in den Ohren.

Nach ungefähr zwei Stunden lenkt Behar den Wagen auf einen Parkplatz. »Pause«, ruft er und wartet, bis die Passagiere ausgestiegen sind. Draußen dehnt er sich und zündet eine weitere Zigarette an. Rauchend geht er auf ein Blockhaus zu. Mit dem Spitzdach und der Veranda könnte es gut in der Wildnis Kanadas stehen. Links und rechts der Hütte breiten...