Störungen der Sprachentwicklung - Grundlagen - Ursachen - Diagnose - Intervention - Prävention

von: Hannelore Grimm

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783840924439 , 208 Seiten

3. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 26,99 EUR

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Störungen der Sprachentwicklung - Grundlagen - Ursachen - Diagnose - Intervention - Prävention


 

Wie Wörter angeordnet werden müssen, um einen möglichen Satz einer Sprache zu ergeben, regelt die Syntax. So ist der Satz „Hans liest das Buch“ ein möglicher Satz des Deutschen, nicht jedoch „Das Buch Hans liest“. Auch Beziehungen zwischen Satzformen, wie beispielsweise die Aktiv-Passiv-Beziehung („Hans küsst Ursula“ zu „Ursula wird von Hans geküsst“) oder die Beziehung zwischen Aussage und Frage („Hans küsst Ursula“ zu „Küsst Hans Ursula?“) werden durch die Syntax geregelt. Das Kind muss auf der Grundlage der gehörten Sätze die diesen zugrundeliegenden syntaktischen Strukturen erkennen und in ein Regelsystem bringen. Dass dies eine äußerst komplizierte Aufgabe ist, die nicht einfach durch oberflächliche Analogiebildungen gelöst werden kann, machen Sätze deutlich wie „Manche Menschen sind schwer zu verstehen“ versus „Manche Menschen sind unfähig zu verstehen“. Obgleich beide Sätze auf der Oberflächenebene ähnlich sind, unterscheiden sie sich tiefenstrukturell in ganz entscheidender Weise (s. Weinert & Grimm, 2008).

Mit dem Lexikon ist die sogenannte Wortsemantik gemeint, das ist die Bedeutung von Wörtern. Bekanntlich werden dieselben Bedeutungen in unterschiedlichen Sprachen ganz unterschiedlich ausgedrückt, so dass ein bellender Vierbeiner z. B. als „Hund“, „dog“ oder „chien“ bezeichnet wird.

Im Kontext der Satzsemantik, d. h. der Satzbedeutung, werden inhaltliche Verbindungen zwischen Wortbedeutungen hergestellt, wobei sich diese kontextsensitiv verschieben können. So bedeutet „leicht“ in den beiden folgenden Sätzen etwas ganz Unterschiedliches: „Eine Feder ist leicht“ und „Die Arbeit fällt mir nicht leicht“. Pragmatische Kompetenz

Bei der pragmatischen Kompetenz steht schließlich das kommunikative System im Mittelpunkt, wobei es um die angemessenen kommunikativen Verwendungsweisen von Sätzen in unterschiedlichen Kontexten geht. Drei Teilbereiche können unterschieden werden: Erstens die Sprechhandlungen, die als sozial akzeptierte Kommunikationsformen ausgeführt werden, um zu bitten, zu befehlen, zu versprechen, zu taufen oder auch zu richten. Bei den Konversationshandlungen geht es zweitens um gesprächssteuernde Prinzipien wie beispielsweise dem Wissen, wann man einen Faden aufgreifen kann oder wann man zu schweigen hat. Drittens geht es um den Diskurs, der das Wissen umfasst, wie man eine Geschichte erzählt, in welcher Weise neue Informationen gegenüber alten hervorgehoben werden oder auch, wann der Gebrauch des definiten Artikels gegenüber dem infiniten angebracht ist.

Die Pragmatik, so lässt sich zusammenfassen, ist nicht nur ein weites, sondern auch ein heterogenes Feld ohne feste Grenzen. Sie schließt sowohl soziokulturelles Wissen als auch das Wissen um Gefühle und Bedürfnisse ein. Kurz gesagt ist bei der pragmatischen Kompetenz der sprachliche Ausdruck mit der sozialen Kognition verbunden.

1.3 Das sprachliche Handeln ist eine zutiefst biologische Angelegenheit

Die komplexe Aufgabe des Spracherwerbs lösen die Kinder, wie schon betont, in einem sehr frühen Alter. Sie können sich noch kaum das Schuhband zubinden, beherrschen noch nicht die Zahlen von 1 bis 10, vermögen noch nicht die einfachsten Analogieaufgaben zu lösen und sprechen dennoch in wohlgeformten Sätzen. Die große und in der Wissenschaft leidenschaftlich diskutierte Frage ist: Wie ist das überhaupt möglich? Dieser Frage nähern wir uns in den folgenden Kapiteln an, wobei zwei Gedanken zentral sind: Der erste ist, dass das Sprachlernen innerhalb von biologischen Zeitfenstern erfolgt und auf nicht sprachlichen sowie auf sprachspezifischen Vorausläuferfähigkeiten beruht. Der zweite Gedanke ist, dass die Sprache kein Objekt ist, das sich außerhalb des Kindes befindet und in irgendeiner Weise verinnerlicht wird (vgl. Studdert-Kennedy, 1991). Das Kind betrachtet die Sprache nicht als eine Aufgabe, die es bewusst reflektierend Stück für Stück lösen muss. Das Kind wächst vielmehr in sprachliche Handlungsformen hinein. Im interaktiven Austausch mit wichtigen Personen seiner Umwelt erwirbt es die Regeln der Sprache auf implizite Weise. Das sprachliche Handeln ist im menschlichen Entwicklungssystem genetisch verankert und ist damit eine zutiefst biologische Angelegenheit (vgl. auch Grimm, 1987a). Mit folgenden Worten hat der bekannte Sprachpsychologe Hans Hörmann sein Buch Psychologie der Sprache eingeleitet (196 7/ 1977):
„Der Besitz der Sprache unterscheidet den Menschen vom Tier. In der Sprache liegen alle Möglichkeiten des Menschseins beschlossen.“

Das Kind steigt mit schlafwandlerischer Sicherheit in den Prozess der Sprachaneignung ein, weil es ja – gottlob – keine Ahnung von der Schwierigkeit der Aufgabe hat, die ihm bevorsteht. Sonst würde es, so hat R. Tracy einmal richtig gemeint, gar nicht erst damit anfangen.

Weiterführende Literatur

Grimm, H. (1987a). Biologische Grundlagen des Spracherwerbs. Der Kinderarzt, 12, 16 99–1704. Grimm, H. (Hrsg.). (2000a). Sprachentwicklung (Enzyklopädie der Psychologie, Serie Sprache, Band 3). Göttingen: Hogrefe.
Grimm, H. & Wilde, S. (1998). Sprachentwicklung: Im Zentrum steht das Wort. In H. Keller (Hrsg.), Lehrbuch Entwicklungspsychologie (S. 445–473). Bern: Huber.
Hoff, E. (2001). Language development. Wadsworth, Thomson Learning. Weinert, S. (2006). Sprachentwicklung. In W. Schneider & B. Sodian (Hrsg.), Kognitive Entwick lung (Enzyklopädie der Psychologie, Serie Entwicklungspsychologie, Band 2, S. 609–719). Göttingen: Hogrefe.
Weinert, S. & Grimm, H. (2008). Sprachentwicklung. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwick lungspsychologie. Ein Lehrbuch. (6., vollständig überarbeitete Aufl., S. 502–534). Weinheim: Beltz/PVU.