Das Zufallsprinzip. Vom Ereignis zum Gesetz

von: Hartmut Kuthan

engelsdorfer verlag, 2013

ISBN: 9783954880041 , 148 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 5,99 EUR

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Das Zufallsprinzip. Vom Ereignis zum Gesetz


 

2 Die Kunst des Vermutens


Das Gewebe dieser Welt ist aus

Notwendigkeit und Zufall gebildet.

Johann W. von Goethe1

Jakob Bernoulli


Pascal, Fermat und Huygens hatten keinen explizit definierten Begriff der Wahrscheinlichkeit gekannt. Dies war auch noch der Stand, als Jakob Bernoulli zwischen 1680 und 1685 seine Untersuchungen zur Wahrscheinlichkeitsrechnung aufnahm.

Die „Ars conjectandi sive stochastice“, so der vollständige lateinische Titel, erschien 1713, acht Jahre nach dem Tod von Jakob Bernoulli in Basel. Diese Abhandlung erlangte ihre herausragende Bedeutung für die Entwicklung der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik vor allem durch die im Teil IV enthaltenen Ideen zum Wahrscheinlichkeitsbegriff, zum Problem des statistischen Schließens (Inferenz) und, in ganz besonderem Maße, durch ein berühmtes Theorem, für welches Siméon-Denis Poisson (1781-1840) die Bezeichnung „Gesetz der großen Zahlen“ prägte.2 Bernoulli kommunizierte 1703 seine Theorie mit Gottfried W. Leibniz (1646-1716), der verschiedene Einwände vorbrachte. Der schwer kranke Bernoulli ignorierte letztendlich Leibniz’ Bedenken, diskutierte aber die wesentlichen Einwände im Teil IV der „Ars conjectandi.“

Jakob Bernoulli hinterließ die „Ars conjectandi“ unvollendet. Das Werk wurde schließlich in der ursprünglichen Fassung gedruckt; Jakobs Bruder Johann und sein Neffe Nikolaus I. hatten die Aufforderung der Verleger, das Manuskript zu vollenden, abgelehnt. In deutscher Sprache erschien das klassische Werk erst knapp 200 Jahre nach der Erstveröffentlichung. Die spätere hohe Wertschätzung der „Ars conjectandi“ bestand offensichtlich nicht von Anfang an – in einer zweibändigen Ausgabe der Abhandlungen Bernoullis aus dem Jahre 1744 wurde die „Ars conjectandi“ nicht aufgenommen. Wer war dieser Mann, der die Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihre Anwendung auf ein neues, fruchtbares Fundament stellte?

ABBILDUNG 1: Titelblatt der Ars Conjectandi (1713). 3

Jakob Bernoulli, geboren am 27. Dezember 1655 in Basel, war vor allem ein genialer Mathematiker. Zum Mathematiker wurde er, in dem er sich gegen den Willen des Vaters – und daher notgedrungen als Autodidakt – mit Mathematik und Astronomie befasste. Sein Studium der Philosophie schloss er 1671 mit einem Magistergrad, das der Theologie fünf Jahre später mit einem Lizentiat ab. Aber seine große Passion, die er mit mehreren Bernoullis der berühmten Baseler Gelehrten-Familie teilte, waren die Mathematik und angrenzende Gebiete. Mit seinem zwölf Jahre jüngeren Bruder Johann, den er unterrichtete und der ihm 1705 auf den Baseler Lehrstuhl der Mathematik nachfolgte, trug er wesentlich zur Ausgestaltung der Leibniz’schen Infinitesimalrechnung bei. Jakob Bernoulli initiierte Untersuchungen zur Variationsrechnung, die später von Leonhard Euler (1707-1783) und Joseph L. Lagrange (17361813) weiterentwickelt zu großer Bedeutung gelangte, und gilt als Begründer der Methode der vollständigen Induktion und der mathematischen Statistik. Letzteres vor allem durch seine Ideen zur Inferenz und sein bahnbrechendes „goldenes Theorem“.4

Wahrscheinlichkeit, Zufall und Notwendigkeit


Anfang des 18. Jahrhundert gab es noch keine Zersplitterung in Fachdisziplinen. So ist es nicht verwunderlich, dass in dem bei Weitem bedeutendsten, vierten Teil der „Ars conjectandi“ allgemeine Betrachtungen und Feststellungen über Unsicherheit von Wissen und Erkenntnis, Notwendigkeit und Zufälligkeit, aber auch über das Beurteilen von juristischen Sachverhalten sowie Entscheiden und Handeln unter Unsicherheit weiten Raum einnehmen. Tatsächlich sind vier der insgesamt fünf Kapitel des vierten Teils nicht-mathematischer Natur. Um einen Eindruck von der Originalität der Darlegungen zu vermitteln, werden nachfolgend mehrere Passagen zitiert.

Begriffe bilden das Rückgrat einer Theorie. Gleich im ersten Kapitel überrascht Bernoulli mit einer Definition des Begriffes Wahrscheinlichkeit:

Die Wahrscheinlichkeit ist nämlich ein Grad der Gewissheit und unterscheidet sich von ihr wie ein Theil vom Ganzen.5

Die Grade der Gewissheit, und damit die Wahrscheinlichkeitswerte, bewegen sich zwischen 0 und 1, wobei der absoluten Gewissheit 1 zugeordnet wird. Dies ist ersichtlich die Definition eines subjektiven Wahrscheinlichkeitsbegriffes. Sie ist indessen keineswegs neu, sondern wurde schon von Leibniz in früheren Schriften kommuniziert.6 Neu dagegen ist die explizite Angabe eines Wahrscheinlichkeitsbegriffs in einem Werk, das sich mit der mathematischen Behandlung ungewisser Ereignisse und Aussagen befasst. Wie die spätere Entwicklung zeigt, sind subjektive Wahrscheinlichkeitsbegriffe heute noch vertretbare Interpretationen der mathematischen Wahrscheinlichkeit.

Nach der Begriffsbestimmung der Wahrscheinlichkeit behandelt Bernoulli die Modalitäten „möglich“, „unmöglich“ und „moralisch gewiss“:

Möglich ist das, was einen, wenn auch sehr kleinen Theil der Gewissheit für sich hat; unmöglich ist dagegen das, was keinen oder einen unendlich kleinen Theil der Gewissheit besitzt (…) Moralisch gewiss ist etwas, dessen Wahrscheinlichkeit nahezu der vollen Gewissheit gleichkommt (…)7

Auch der Begriff der moralischen Gewissheit wurde bereits von Leibniz und anderen benutzt. Heute wird „moralische Gewissheit als „praktische Sicherheit“ bezeichnet. Zufälligkeit und Notwendigkeit werden von Bernoulli als Gegensatzpaar behandelt. Zum Begriff der Notwendigkeit führt er aus:

Nothwendig ist das, was sein, werden oder gewesen sein muss (…) dass das Dreieck drei Winkel besitzt, deren Summe gleich zwei Rechten ist (…)8

Aber Bernoulli sieht den Gegensatz von Notwendigkeit und Zufälligkeit nicht als absolut an:

(…) nicht immer schliesst die Zufälligkeit die Nothwendigkeit bis zu Ursachen von untergeordneter Bedeutung ganz aus (…)9

Was Bernoulli dann dazu in aller Kürze anführt, ist verblüffend: Er skizziert die Grundideen der Physik zufälliger Ereignisse anhand des Würfels und des zukünftigen Wetters. Zwei volle Jahrhunderte werden noch verstreichen, bis Henri Poincaré (1854-1912) und Marian W. von Smoluchowski (1872-1917) hierzu vertiefte Einsichten präsentieren. Bernoulli fasst seine Betrachtungen mit den folgenden Worten zusammen:

Daraus folgt, dass einem Menschen und zu einer bestimmten Zeit etwas als zufällig erscheinen kann, was einem andern Menschen (ja sogar auch demselben) zu einer andern Zeit, nachdem die Ursachen davon erkannt sind, als nothwendig erscheint. Daher hängt die Zufälligkeit vornehmlich auch von unserer Erkenntnis ab (…)10

Jakob Bernoulli vertritt auch hier eine subjektive Position: Zufälligkeit beruht auf unzureichender Kenntnis der Ursachen. Das Kausalitätsprinzip und die Determiniertheit aller Ereignisse anzuzweifeln, liegt ihm fern – letztendlich ist jegliches Geschehen vollkommen bestimmt. Ein Jahrhundert später wird uns dieses deterministische Weltbild bei Pierre-Simon Laplace (1749-1827) in vollendeter Form wiederbegegnen. Diese weltanschauliche Position ist ein Spiegel des festen Glaubens an eine durchgehende Kausalität und kosmische Ordnung, wie sie bereits die von Zenon von Kition (um 333-264 v. Chr.) begründete antike Stoà vertrat. Das Paradigma der universellen Determiniertheit des Naturgeschehens, welches noch bis in das erste Viertel des 20. Jahrhunderts Bestand hatte, wurde erst durch die Quantentheorie erschüttert.

Nach den einleitenden Ausführungen kommt Bernoulli im Kapitel 2 von Teil IV der „Ars conjectandi“ zu seinem zentralen Anliegen – der Kunst des Vermutens:

Irgend ein Ding vermuthen heisst soviel als seine Wahrscheinlichkeit messen. 11

In dieser Formulierung wird Bernoullis Absicht deutlich, ein quantitatives Maß des Vermutens einzuführen, daher auch der Titel seiner Abhandlung „Mutmaßungskunst“. Als grundlegend sieht er die Bestimmung der Fälle, das heißt die Gesamtheit unterscheidbarer Ausgänge oder Beobachtungen an. Diesem Ziel nähert er sich zweigleisig.

Bei einfachen Glücksspielen wie dem Würfelspiel oder beim Ziehen von weißen oder schwarzen Steinchen aus einer Urne, die „gleich leicht“ gezogen werden können, kann die Zahl der Fälle durch Abzählen jeweils genau angegeben werden. Beim Würfel ergibt sich die Anzahl der Fälle aus der Anzahl der Flächen. Diese sechs Fälle werden a priori als „gleich leicht möglich“ angesehen wegen der gleichen Gestalt der Flächen und der gleichmäßig verteilten Masse.12 Bernoulli sieht aber klar, dass diese Vorgehensweise „fast nirgends anders als in Glücksspielen“ möglich ist. Denn anders liegen die Verhältnisse etwa bei Vermutungen „über das Verhältnis von Leben und Sterben“ künftiger Generationen oder den Veränderungen, „welche die Luft täglich unterworfen ist“. Wegen der „unendlichen Mannigfaltigkeit“ des Zusammenwirkens verborgener Ursachen kommt der erstgenannte Weg, die Fälle zu bestimmen, nicht infrage. Doch Bernoulli sieht einen Ausweg: Er schlägt eine Bestimmung a posteriori vor. Für diese Idee beansprucht er keinerlei Priorität, vielmehr verweist er auf eine früher erschienene französische Abhandlung und meint untertreibend,...