Diagnostik in der Klinischen Kinderpsychologie - Die ersten sieben Lebensjahre

von: Dieter Irblich, Gerolf Renner

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2009

ISBN: 9783840921247 , 483 Seiten

Format: PDF, OL

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Preis: 43,99 EUR

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Diagnostik in der Klinischen Kinderpsychologie - Die ersten sieben Lebensjahre


 

20 Diagnostik bei Aufmerksamkeitsstörungen (S. 245-246)

Gerolf Renner & Dieter Irblich


Fallbeispiel

Der fünfjährige Jonas hält sich im Kindergarten nicht an Gruppenregeln, kann im Stuhlkreis nicht abwarten, bis er an der Reihe ist, nimmt anderen Kindern Spielzeug ab und ist vornehmlich daran interessiert, mit ihnen zu raufen. Zu Hause werden Verbote nicht eingehalten, bei elterlichen Aufforderungen diskutiert Jonas "bis zum Umfallen",. Gleichzeitig ist er aber hilfsbereit und prosozial. Während der Exploration ist Jonas nicht übermäßig unruhig.

Bei der Intelligenztestung, bei der er ein überdurchschnittliches Resultat erzielt, fällt eine erhebliche Impulsivität auf und er kann nur durch raschen Wechsel der Testaufgaben zum Weitermachen bewegt werden. Jonas reagiert überhastet, handelt nicht vorausschauend und gibt bei auftretenden Schwierigkeiten rasch auf. Im "Fremdbeurteilungsbogen für Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen im Vorschulalter", (FBB-ADHS-V, Döpfner, Görtz- Dorten & Lehmkuhl, 2008) finden sich sowohl bei den Angaben der Eltern als auch der Bezugserzieherin auffällige Werte für "Hyperaktivität-Impulsivität",, nicht jedoch für "Aufmerksamkeitsstörung", und für die "Gesamtskala-ADHS",. Die Kriterien für eine Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung im Sinne des ICD-10 sind somit nicht vollständig erfüllt. Die Impulsivität als wesentliche Komponente der Verhaltensproblematik kann jedoch abgebildet werden in der DSM-IV-TR-Diagnose Aufmerksamkeitsdefizitstörung, vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ.

1 Einleitung


Eine intakte Aufmerksamkeit hat eine besondere Bedeutung für erfolgreiche Lernprozesse und die psychosoziale Entwicklung. Daher sollte zumindest eine orientierende Bewertung der Aufmerksamkeit in keiner kinderpsychologischen Untersuchung fehlen. Die Diagnostik erfolgt aus verschiedenen Perspektiven, die in der klinischen Praxis eher nebeneinander als sich gegenseitig ergänzend in Erscheinung treten.

Aus psychiatrischer Sicht wurden mit den Hyperkinetischen Störungen in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10, Dilling, Mombour & Schmidt, 2005) bzw. der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV-TR, Saß, Wittchen, Zaudig & Houben, 2003) Störungsbilder definiert, die ein Verhaltensmuster mit den Elementen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität beschreiben.

Aus neuropsychologischer Sicht wird Aufmerksamkeit als ein komplexes, auf der Aktivität von neuronalen Netzwerken basierendes System verstanden, in dem frontale und parietale Areale des Kortex und subkortikale Strukturen zusammenwirken. Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit können daher bei ganz unterschiedlich lokalisierten Hirnschädigungen auftreten.

In verschiedenen Taxonomien (s. z. B. Sturm, 2005) werden die Komponenten selektive Aufmerksamkeit (Fokussierung der Aufmerksamkeit auf relevante Reize), geteilte Aufmerksamkeit (die parallele Beachtung mehrerer relevanter Reize), Daueraufmerksamkeit/Vigilanz (längerfristige Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit), Alertness (Wachheit, kurzfristige Reaktionsbereitschaft auf Reize) und Aufmerksamkeitskontrolle (Flexibilität/Umstellungsfähigkeit und Strategie) unterschieden. Unter Exekutivfunktionen werden Planung, Regulation und Bewertung nicht automatisierter zielgerichteter Handlungen subsumiert (s. Hongwanishkul, Happaney, Lee & Zelazo, 2005). Der Begriff Konzentration wird nicht einheitlich definiert, betont aber meist den Aspekt der willentlichen Anstrengung (Schmidt-Atzert, Krumm & Bühner, 2008)."