Wenn ihr wüsstet - Die Autobiografie

Wenn ihr wüsstet - Die Autobiografie

von: David Garrett, Leo G. Linder

Heyne, 2022

ISBN: 9783641289096 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 19,99 EUR

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Wenn ihr wüsstet - Die Autobiografie


 

Dieses unmögliche Instrument

Einer meiner ersten Geigenversuche gemeinsam mit meinem Vater

Erinnere ich mich wirklich? Oder erinnere ich mich bloß an die Erinnerung anderer? Ich meine, mich zu erinnern …

1985 sollte Szeryng in Aachen auftreten. Henryk Szeryng, in Polen geboren, einer der größten, der wunderbarsten Geiger seiner Zeit – dieser gefeierte Mann würde also demnächst in meiner Heimatstadt zu sehen und zu hören sein. Sensationell! Mit meinen vier Jahren hatte ich natürlich keine Ahnung von unserem Glück, aber meinem Vater war sofort klar: Da müssen wir hin! Also Eintrittskarten bestellt, ziemlich weit vorn, diesem Henryk Szeryng so nah wie möglich. Vorher musste allerdings eine Frage geklärt werden: Nehmen wir unseren Jüngsten mit? Kann er so lange still sitzen? Wird er quengeln? Mein Vater entschied: »David kommt mit. Das muss er sich anhören.« Schlimmstenfalls würde meine Mutter mit mir den Saal verlassen müssen.

An diesem Abend saß ich zwischen meinen Eltern in der vierten Reihe, im Konzertsaal des Eurogress, und während Szeryng spielte, fing ich an, den Geiger da oben nachzuahmen, sozusagen Luftgeige zu spielen. Es muss merkwürdig ausgesehen haben. Szeryng jedenfalls fiel es auf: Dort unten sitzt ein Kind, das geigt mit … Und in den Pausen zwischen den Stücken sah er mich an und wartete tatsächlich, bis ich mich wieder beruhigt hatte und still saß – dann nickte er dem Pianisten zu und spielte weiter.

Nach dem Ende des Konzerts kam er noch einmal auf die Bühne zurück, um eine Zugabe zu spielen. Klar, das ist so üblich, aber was dann folgte, war zweifellos sehr ungewöhnlich. Als der Applaus verebbte, trat er nach vorn, zeigte mit dem Bogen auf mich und sagte: »Als ich so jung war wie dieser Kleine in der vierten Reihe hier, habe ich Fritz Kreisler in einem Konzert gehört« – ein Geiger der 20er-, 30er-Jahre vom selben Format wie Szeryng. »Kreisler«, fuhr er fort, »hat mich damals im Publikum entdeckt und mir am Ende seine Zugabe gewidmet, nämlich Tempo di Minuetto, von ihm selbst komponiert. Und heute Abend« – damit sah er wieder mich an – »spiele ich Tempo di Minuetto von Fritz Kreisler für dich.« Und dieses Tempo di Minuetto ist ein herzergreifend romantisches Stück, eine kleine Gute-Nacht-Musik für einen kleinen Prinzen, und er spielte es für mich, und vielleicht war dieses Erlebnis die Initialzündung. Ich musste jedenfalls nicht lange warten, bis mir mein Vater meine erste Geige in die Hand drückte, eine winzig kleine Kindergeige.

Nun ist die Geige ein seltsames Instrument. Ich könnte damit noch ein bisschen warten und erst später darauf zu sprechen kommen, aber es muss jetzt sein, unbedingt, denn … Was wäre ich ohne meine Geige? Ich habe mir diese Frage mehr als ein Mal in meinem Leben gestellt, habe versucht, mir ein Leben ohne Geige vorzustellen, und habe es nicht gekonnt, denn ich bin geigenbesessen. Ich liebe Geigen, sie üben auf mich eine unwiderstehliche Faszination aus, und nicht allein wegen der Musik – es ist die Geige selbst, von der ich nicht loskomme, weil ich zu viel mit ihr erlebt habe, Schreckliches und Schönes, und wer mich verstehen will, der muss dieses Instrument verstehen, bevor er sich mit mir auf meine Lebensreise begibt. Für alle, die sich nie an einer Geige versucht haben, will ich deshalb kurz erklären, was die Geige von anderen Musikinstrumenten unterscheidet.

Wenn man Musik machen will, gibt es grundsätzlich vier verschiedene Arten, Töne zu erzeugen (die menschliche Stimme einmal beiseitegelassen). Man kann Luft durch Löcher pressen. In diesem Fall wird der Ton dadurch bestimmt, dass man einige Löcher verschließt und andere freigibt – bei Flöte, Trompete, Klarinette und Orgel funktioniert es so. Dies ist die erste Methode. Oder man klopft, hämmert, trommelt, schlägt auf einen Gegenstand, sei es mit den Fingern, sei es mit Stöcken oder Hämmerchen – das trifft auf Klavier, Trommel, Triangel und Xylofon zu. Dies ist die zweite Methode. Dann gibt es die Möglichkeit, Saiten durch Zupfen oder Anreißen zum Schwingen zu bringen wie bei Gitarre oder Harfe – dies ist die dritte Methode.

Streichinstrumente wie Geige und Cello erweitern diese Palette der Möglichkeiten nun um eine vierte, die man als reiben, schaben oder kratzen bezeichnen kann, und diese Vorgehensweise klingt nun wirklich nicht nach einem erfolgversprechenden Rezept, wohlklingende Laute zu produzieren. Wie das Wort »kratzen« schon nahelegt, können auf diese Art zwar Töne erzeugt werden, aber in den seltensten Fällen schöne, und damit fängt die Qual des jungen Geigenschülers an.

Es gibt wohl kaum ein schlimmeres Instrument für einen Anfänger und alle, die sich in seiner Nähe aufhalten. Geige spielen zu lernen erfordert von allen Beteiligten Nerven aus Stahl. Auch das Nervenkostüm meines Vaters muss nach einer Weile in Mitleidenschaft gezogen worden, buchstäblich angekratzt gewesen sein. Dabei haben wir über das eigentliche Problem noch gar nicht gesprochen, nämlich die Intonation, also das Verfahren, überhaupt den richtigen Ton auf seiner Geige zu finden.

Nehmen wir zum Vergleich das Klavier. Vorausgesetzt, das Instrument ist ordentlich gestimmt, brauche ich nur eine Taste niederzudrücken und erhalte prompt den gewünschten Ton, rein und unverzerrt – jedem Kleinkind kann man auf einem Klavier innerhalb von Sekunden einen sauberen C-Dur-Akkord beibringen. Das Gleiche dauert auf einer Geige Monate. Warum? Weil du auf einem Klavier jeden Ton wie auf einem Silbertablett serviert bekommst; da hast du eine Tastatur von etwa zwei Metern Länge und obendrein Tasten, die so breit sind, dass man selbst bei einem Allegro furioso kaum danebenhauen kann – aber auf einer Geige sind die Töne nicht festgelegt. Sie lassen sich mit dem Auge nicht mal erkennen, man muss sie blind treffen, und jetzt geht es um Millimeter, um Mikromillimeter, und das nicht selten in Millisekunden! Statt etwa zwei Metern Tastatur steht dir lediglich ein kurzes Griffbrett zur Verfügung, auf dem sich die ganze Bandbreite der Töne auf Zentimetern zusammendrängt, wo die einzelnen Töne mithin auf allerengstem Raum beieinanderliegen. Es ist ein Mysterium, wie man unter solchen Bedingungen, womöglich in rasender Geschwindigkeit, überhaupt einen Ton trifft, der klar und deutlich und sauber klingt.

Nicht genug damit: Wenn du den Ton getroffen hast, hast du ihn noch nicht erzeugt. Es klingt noch nichts, es fehlt die Reibung. Erst der Bogen erweckt die Geige zum Leben, und jetzt hast du das nächste Problem, nämlich mit der rechten Hand völlig andere Bewegungen ausführen zu müssen als mit der linken. Deine Linke tastet sich mehr oder weniger behände über die Saiten, die Rechte hingegen vollführt – in einem ganz anderen Tempo – Auf- und Abwärtsbewegungen mit einem Bogen, und jetzt koordiniere mal diese beiden Bewegungen! Ganz abgesehen davon, dass du mit diesem Bogen den idealen Punkt zwischen Steg und Griffbrett anpeilen musst, jenen Abschnitt der Saite also, an dem du einen weichen und runden Klang hinbekommst. Für jede einzelne Note musst du genau diesen Idealpunkt finden, doch wenn du ihn auf der oberen Saite an der gleichen Stelle suchst wie auf der unteren, hast du dich getäuscht – oben sitzt er woanders.

Zu allem Überfluss aber, und damit will ich es für den Augenblick auch gut sein lassen: Kein Physiotherapeut hätte ein solches Instrument erfunden. Als Pianist muss man ein bisschen auf seinen Rücken achten, das ist wahr, aber ein Geiger muss damit rechnen, dass es ihn nach zwei Stunden in Beinen und Rücken zwickt, weil er zu einer regelrechten körperlichen Verschachtelung gezwungen ist. Irgendwie muss die Geige ja festgehalten werden, und jetzt stehst du da, den Kopf nach links gewendet, die linke Schulter leicht angehoben und das Instrument zwischen Schulter und Kinn eingeklemmt. Die linke Hand unterstützt zwar leicht, wird aber gleichzeitig für akrobatische Fingerbewegungen gebraucht und muss sich daher frei bewegen können; an Festhalten ist von dieser Seite her folglich nicht zu denken. Das heißt: Nicht genug mit den technischen Herausforderungen des Geigenspiels – obendrein müssen auch Körper und Geige optimal zusammenwirken.

Mit anderen Worten: ein unmögliches Instrument. Der Schwierigkeitsfaktor ist brutal, und die Aussicht, es auf der Geige ganz nach oben zu schaffen, so wahrscheinlich, wie den Mount Everest allein und ohne Sauerstoffgerät zu besteigen. Und jetzt höre ich die vollkommen berechtigte Frage: Wie kann man dann wehrlosen Kindern zumuten, sich im Alter von vier oder fünf Jahren mit diesem Instrument herumzuquälen?

Die Antwortet lautet: Weil die Erfahrung zeigt, dass Kopf und Hände in einem späteren Alter den enormen Anforderungen der Geige nicht mehr gewachsen sind. Wer erst mit zehn oder zwölf Jahren anfängt, muss nicht zwangsläufig ein schlechter Geiger werden, aber den Gipfel des Mount Everest wird er nie erklimmen. Eine Saite mit einem Finger der linken Hand im Millimeterbereich optimal zu treffen – dieses feinmotorische Kunststück erlernt man nur in sehr jungen Jahren, und Ähnliches trifft aufs Gehör zu. Es ist nämlich so, dass nicht einmal der beste Geiger der Welt jede Note hundertprozentig genau trifft, auch nicht im Konzert. Er wird immer wieder im Bruchteil einer Sekunde nachkorrigieren müssen, und diese winzigsten Korrekturen erfordern ein extrem präzises, ein von Kindheit an geschultes Gehör. Also besser anfangen, solange das Gehirn noch alles aufsaugt wie ein Schwamm, solange sich noch jeder Griff ins Unterbewusstsein einprägt;...