Psycho-logisch richtig verhandeln - Professionelle Verhandlungstechniken mit Experimenten und Übungen

von: Vera F. Birkenbihl

mvg Verlag, 2010

ISBN: 9783864152535 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Psycho-logisch richtig verhandeln - Professionelle Verhandlungstechniken mit Experimenten und Übungen


 

Kapitel 1

Biologische Grundlagen der Verhandlungs-Situation


Die Thematik dieses ersten Kapitels ist ein wenig heikel. Denn der Mensch, der sich (m.E. um einige Hunderttausende von Jahren zu früh) Homo sapiens genannt hat, legt großen (übergroßen?!) Wert darauf, anders zu sein, d.h. besser, als das Tier.

Deshalb gilt es als höchst unschicklich, auf die biologische (= tierische) Natur des Menschen hinzuweisen. Allein dieses Bemühen, »menschlicher« als die Tiere zu sein, dürfte uns bereits vom Tier abgrenzen. Ich kann mir kaum vorstellen, daß ein Affe oder ein Rebhuhn je Interesse daran hätten, besonders »tierisch« und ja nicht »menschlich« zu erscheinen. Allerdings müssen weder Affen- noch Rebhuhnkinder gewisse natürliche, angeborene Verhaltensweisen ver-lernen, um sich besonders äffen- oder rebhuhnartig zu benehmen. Ein Menschenkind muß dies sehr wohl. Wenn es zu LUTHERs Zeiten durchaus noch üblich war, nach einer Mahlzeit zu fragen:

»Warum rülpset und furzet Ihr nicht,
Hat es Euch nicht geschmacket?«,

so ist heute nicht nur das Aufstoßen und das … verboten, ja man darf diese Verhaltensweisen kaum noch erwähnen!!! Nur noch ein Säugling darf diese biologisch notwendigen und gesundheitserhaltenden »Pfuis« noch ausleben (wahrscheinlich weil es unmöglich ist, ihm schon klarzumachen, wie »tierisch« sein Benehmen doch eigentlich sei).

Spaß beiseite. Wir wollen uns in diesem Rahmen nicht mit den inzwischen verbotenen biologischen Funktionen auseinandersetzen, die ich in meinem Buch »Freude durch Streß« (9) auf ihre gesundheitsschädigende Wirkung hin untersucht habe. Aber wir müssen einiges von bestimmten biologischen Prozessen verstehen, wenn wir begreifen wollen, wie es dazu kommt,

1.  daß der Mensch nur allzu schnell auf Kampf- oder Fluchtverhalten »umschaltet«,

2.  daß der Mensch sich nur schwer auf Neues (also auch auf neue Fakten in einer Verhandlungssituation) einstellen kann,

3.  daß der Mensch um so weniger klar denken kann, je mehr ihm an seinem Ziel liegt (welches er jetzt dem anderen »verkaufen« möchte),

4.  daß Druck Gegendruck erzeugt,

5.  daß der strategische Aufwand oft in keinem gesunden (sinnvollen) Verhältnis zum Wert des Zieles steht (z.B. wenn Eheleute stundenlang über eine Kleinigkeit streiten).

Damit hätten wir die fünf Regeln des Vorwortes zusammengefaßt, von denen eine jede bei schlechter Verhandlungsstrategie angewendet wird. Wenn es nicht gewisse biologische Funktionen geben würde, die uns oft »dazwischenfunken«, dann könnten wir unsere Verhandlungsprobleme mit Logik alleine lösen. Aber so einfach ist es nicht.

1.1. Das Denk-Hirn denkt – das Reptil in uns lenkt


Es ist eine Tatsache, vor der wir am liebsten die Augen schließen würden, aber es wohnen wirklich zwei völlig verschiedene »Seelen« in uns, wie GOETHE schon feststellte. Oder, um mit Emile ZOLA zu sprechen: Es gibt eben noch immer das »Biest« in uns (la bête humaine). Je mehr wir darüber wissen, desto eher können wir es (teilweise) bändigen; desto mehr Kontrolle können wir über uns und über andere erhalten; desto eher wird es uns gelingen, die fünf Regeln (S. 10 ff) mehr und mehr außer Kraft zu setzen.

Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß ich GOETHEs berühmten Ausspruch verändert habe. Denn in einem Punkt irrte der Weise, nämlich als er sagte: »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«.

Biologisch eher akurat müßte es heißen: »Zwei Seelen wohnen, ach, in meinem Kopf.« Wieso? Weil sich das »Reptil« in uns in unserem Kopfe befindet. Es ist ein Teil unseres Gehirns. Aber nur ein Teil unseres Gehirns, denn ein anderer Teil desselben Organs beinhaltet u.a. all jene Fähigkeiten, die der Mensch als besonders »menschlich« empfindet und auf die er, zu Recht, so stolz ist. Trotzdem aber wohnt in unserem Kopf nach wie vor das Reptil:

Wenn wir »Gehirn« sagen, so ist dieser Begriff ein Misnomer1.

Genaugenommen wäre es viel richtiger, von »Kopforganen« zu sprechen, denn diese einzelnen »Organe« des Gehirns sind untereinander genauso unterschiedlich wie z.B. das Herz und die Leber.

Natürlich sind sie zusammengewachsen und untereinander verbunden, aber auch die inneren Organe sind miteinander verbunden. Trotzdem wissen wir, daß das Herz nicht verdauen und die Niere nicht unser Blut pumpen kann.

So betrachtet kann man das Gehirn in einzelne Organe unterteilen. Wäre dies ein biologischer Text, dann müßten wir uns jetzt mit mindestens fünf Abteilungen des Gehirns auseinandersetzen, aber wir wollen ein einfaches Denk-Modell erstellen, um uns schnell einen Überblick zu verschaffen. Grob unterteilt kann man von den alten und den neuen Gehirnteilen (auch Alt- und Neuhirn genannt) sprechen. Die alten Teile, die wir als Reptilien-Gehirn bezeichnen wollen1, schätzt man auf ca. 450 Millionen Jahre. (Plus oder minus einige hunderttausend.) Dieses Rep. unterscheidet sich in der Funktion durch absolut nichts von dem Gehirn eines Reptils. Übrigens ist diese Gehirnmasse weiß, im Gegensatz zum Großteil des Neuhirns (gemeint ist jetzt die Großhirnrinde, auch Kortex genannt), in dem sich die berühmten »grauen Zellen« befinden, auf die Agatha CHRISTIEs Hercule Poirot sich so viel einbildet. Dieser Gehirnteil wird auf ca. eineinhalb Millionen Jahre geschätzt. Evolutionsgeschichtlich gesprochen befindet sich der Homo sapiens noch in den ersten Minuten seines Daseins. Wenn Sie sich die bisherige Erdgeschichte in ein Jahr gepreßt vorstellen würden, dann ist der Dinosaurier am 24. Dezember erschienen und am 28. Dezember wieder verschwunden. Der Mensch selbst taucht erst am 31. Dezember nach 21 Uhr abends auf und hat um eine Minute vor Mitternacht gerade erst den Ackerbau erfunden! (nach Carl SAGAN)

Kann es da verwundern, wenn unser Reptiliengehirn im Zweifelsfall das stärkere ist, so daß unsere »Tier-Seele« öfter die Überhand gewinnt, als uns vielleicht lieb ist?

Was heißt »im Zweifelsfall?« Wann greift das Rep. in unser Verhalten ein? Wann stört das Rep. unser so junges, neues Denk-Hirn in seiner so »menschlichen« Tätigkeit?

Antwort: Immer dann, wenn die Bedürfnisse des Rep. gefährdet werden, zieht das Rep. unsere Energien zusammen, um diesem Mißstand mit aller Kraft entgegenzutreten. Wir könnten auch sagen: Das Rep. ist wahrscheinlich das egoistischste Stück lebendes Zellmaterial in unserem Sonnensystem. (Aber: das Denk-Hirn ist wahrscheinlich das einzige Stück lebendes Zellmaterial im Universum, das über sich selbst nachdenken und sich selbst empirisch untersuchen kann!)

Wenn also das Rep. merkt, daß seine Bedürfnisse gefährdet werden, beginnt es »dazwischenzufunken«. Es schaltet auf »Alarm« um und löst einen Mechanismus aus, den man BIONs Prozesse bzw. Kampf- oder Flucht-Verhalten nennt. Wir sagten oben: »Wenn das Rep. merkt…«. Nun fragen Sie vielleicht: Wie kann das Rep. etwas »merken«, wenn doch die Denkfunktionen im Denk-Hirn lokalisiert sind?

Antwort: Jegliche Gefährdung der Bedürfnisse des Reps. lösen Unlust-Gefühle aus. Je stärker die Unlustgefühle, desto stärker sind die Alarmreaktionen vom Rep., desto ausgeprägter wird unser Kampf- oder Fluchtverhalten.

Angenommen, Sie stoßen mit dem großen Zeh an einen spitzen Stein. Sofort empfinden Sie starke Unlustgefühle (in diesem Fall: Schmerz). Sofort wird Ihr Denk-Hirn blockiert, weil das Rep. die Kontrolle an sich gerissen hat. Nicht Ihr Denk-Hirn, sondern Ihr Rep. hat Sie veranlaßt, sofort einen Sprung weg von dem Stein zu machen. Denn bei Schmerz reagieren alle Organismen zunächst mit Flucht (Ausnahmen bestätigen nur die Regel). Noch ein Beispiel:

Herr Huber hat Besuch. Sein Freund Michael ist gekommen. Frau Huber hat den beiden Herren freundlicherweise einen Kaffee gekocht und ist dann weggefahren, um die Tochter vom Schlittschuhlaufen abzuholen. Angeregt unterhalten sich die Freunde. Bis der Kaffee kommt, sind sie schon »mittendrin«. Nun merkt Herr Huber, während er Michael engagiert etwas erklärt, daß kein Zucker auf dem Tisch steht. Er will nicht unterbrechen (er hat ja das Ziel, Michael eine gute Erklärung zu geben). Also winkt er seinem Freund und geht, während er weiterspricht, in die Küche. Michael begleitet ihn und lehnt sich gegen eine Küchenwand, während Herr Huber nach dem Zucker greifen will, der auf dem Regal steht, ohne seine Erklärung zu unterbrechen. Er will sich aufstützen und faßt dabei auf eine Herdplatte, die aber noch heiß ist. Sofort empfindet er heftige Unlustgefühle, die sein Denkhirn zunächst »total« blockieren. Er schreit auf, gleichzeitig die Hand wegziehend (Fluchtverhalten) und schüttelt jetzt die Hand vor Michaels Nase in der Luft (um die Haut abzukühlen, eine Reflexhandlung, ausgelöst vom Rep.). Einen Moment später löst sich die »totale« Denkblockade teilweise auf: Er schreit einige höchst unfreundliche Sätze, Ehefrauen und vergessenen Zucker betreffend, bis er sich langsam beruhigt. Nun kann sein Denkhirn über eine Strategie zum Abbau des Unlustgefühls nachdenken. Soll er nun Mehl draufstreuen, wie man es in seiner Kindheit tat? Oder sollte er die »neue« Theorie ausprobieren und Eiswürfel auflegen?

Aus diesem Fallbeispiel sehen wir:

1.  Ein Ziel des Denk-Hirns (Michael eine gute Erklärung zu geben) wird im Zweifelsfalle sofort geopfert, wenn das Rep. sein...