Handbuch Stadtplanung und Gesundheit

von: Christa Böhme, Christa Kliemke, Bettina Reimann, Waldemar Süß

Hogrefe AG, 2012

ISBN: 9783456950440 , 246 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,99 EUR

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Handbuch Stadtplanung und Gesundheit


 

Der Bau von Schwemmkanalisationen verbreitete sich in Deutschland in den großen Städten allerdings lange bevor Gewissheit über die Ursachen und Ansteckungswege der Cholera vorlag. Der Vergleich des Kanalisationsbaus in Hamburg (nach dem Großen Brand 1842, vgl. Abbildung 1-2), Frankfurt (ab 1865), Danzig (ab 1868) und Berlin (ab 1876) zeigt, dass die Motive zum Kanalisationsbau vielfältig waren und sich keineswegs immer auf eine reale Gesundheitsgefahr bezogen. Vielmehr entsprach die Kanalisation dem Bedürfnis nach Modernität, das mit der Verbannung übler Gerüche aus der Stadt zu tun hatte. Doch Statistiken zeigten auch, dass z.B. die Sterblichkeit an Typhus mit der Eröffnung der Wasserleitung und dem Beginn des Kanalisationsbaus in Berlin beständig zurückging (Weyl 1893, Kurve Nr. 2). Die saubere, von den Fäkalien und ihren Gerüchen schließlich dank WC und Kanalisation befreite Stadt, wurde zu einem der Indikatoren der neuen bürgerlichen Stadtkultur. Zusammen mit der Verbesserung der Ernährungslage gegen Ende des 19. Jahrhunderts gilt die Kanalisation als wesentliche Maßnahme zur Verbesserung der Gesundheit der Stadtbevölkerung. Als Robert Koch 1883 das Cholerabakterium und seine Übertragung durch das Wasser nachwies, waren die richtigen Infrastrukturentscheidungen schon getroffen.

Die wissenschaftliche Hygiene

Physiologische Hygiene und die Legitimation der Städtebaureform

Aus der Antike war die Diätetik (Lebenskunst) und Hygiene (Gesundheitslehre) überliefert, als deren Hauptregel das Maßhalten in allen Dingen galt. Diese veränderten sich grundlegend, als sie im 19.Jahrhundert auf naturwissenschaftliche Basis gestellt wurde. Hygieniker der physiologischen Richtung beschäftigten sich mit dem Wohnungselend, das heißt den feuchten Kellerund heißen Dachwohnungen sowie der «Überfüllung» von Wohnungen. 1861 hatten in Berlin etwa 50% der Bewohner nur ein heizbares Zimmer, das im Durchschnitt von 4,3 Personen bewohnt war (Treue 1969, S.37). Pettenkofer nahm auf Basis der experimentellen physiologischen Hygiene an, dass die Luft, die aus dem Boden aufsteigt, die Krankheitskeime in die Häuser und Wohnungen trage. Damit es nicht zum Ausbruch von Krankheiten käme, sollte man den Schmutz beseitigen und die krankmachende Luft so schnell als möglich austauschen. Die Ventilation der Luft war aber auch nötig, weil der Mensch Luft (Sauerstoff) zum Atmen brauche. Auf dieser Basis wurde dann berechnet, wann eine Wohnung überbelegt war. Dem Sonnenlicht kam ebenfalls gesundheitliche Bedeutung zu, weil dem Ozon, einer Verbindung von Sauerstoff und Sonnenlicht, keimtötende Eigenschaften zugesprochen wurden und weil es die Feuchtigkeit in den Räumen reduzierte und dadurch verdorbene Luft vertrieb.

Diese Erkenntnisse der physiologischen Hygiene wurden von Städtebaureformern zur Kritik der herrschenden sozialen Missstände im Mietskasernenbau bei der Stadterweiterung der Großstädte herangezogen. Das Wohnungselend wurde nach Ansicht von Reinhard Baumeister und anderen Reformern durch einen Mangel an billigen Kleinwohnungen hervorgerufen. Dieser Mangel kam durch Bodenspekulation zustande, die noch durch Bauordnungen verstärkt wurde, welche eine in der ganzen Stadt gleich hohe Ausnut zung der Grundstücke vorsahen und die Mietskasernen mit den engen Höfen hervorbrachten (vgl. Abbildung 1-3). So schrieb Baumeister in den ersten systematischen Ausführungen zur Stadterweiterung 1876: Der Mangel an Wohnungen und der hohe Preis von angemessenen Wohnungen sind nicht die einzigen Merkmale der Wohnungsnot [...] Vor Allem sind die schädlichen Einflüsse auf die Gesundheit zu erwähnen. Zum Gedeihen des Menschen sind Sonnenlicht und reine Luft notwendig [...] Das Licht wird durch übermäßig dichte Stellung der Häuser, beschränkte Höfe, kleine Fenster entzogen; die Luft wird durch enges Zusammendrängen in wenige kleine Räume und ungenügende Einrichtungen zur Beseitigung von Unrath verdorben, sowie wegen Mangel an natürlicher oder künstlicher Ventilation nicht erneuert; die Beschaffenheit des Terrains erhält die Wohnungen feucht durch das Aufsteigen der Erdfeuchtigkeit und mangelhafte Entwässerung. (S. 16)

Bald verkürzten sich die gesundheitlichen Forderungen an die Städtebaureform auf den Slogan nach «mehr Licht, mehr Luft.» Nach der Vorstellung der Reformer konnten neue Planungsinstrumente wie die an der «natürlichen» Bodenwertentwicklung orientierten Zonenbauordnungen, ein Mittel zum Bau von billigen und gesunden Wohnungen sein. Die Grundstücksausnutzung sollte dabei vom Zentrum zur Peripherie hin in Zonen mit gleichen Bodenwerten abgestuft und die rauchenden und lärmenden Fabriken von den Wohnstandorten getrennt werden. Diese Ideen ließen sich jedoch gegen die Grundstückseigentümer politisch bis zum Ersten Weltkrieg kaum durchsetzen und konkurrierten mit an realen Bodenwerten orientierten neuen Bauordnungen. Die einzige Möglichkeit, sich vor dem ersten Weltkrieg von kapitalistischen Wohnungsmarktmechanismen in Großstädten abzukoppeln, boten Wohnungsbaugenossenschaften für etwas bemittelte Arbeiter und kleine Beamte. Die Häuser solcher Genossenschaften entsprachen nicht dem Mietskasernentyp, der für Baumeister u.a. der typische Ausdruck eines ungesunden Wohnungs-und Städtebaus war. Wohnungen von Arbeiterfamilien, die in Notzeiten Betten vermieteten, für eine Quelle von Krankheit und Unsittlichkeit. Die häufige Ansteckung mit dem Tuberkelbazillus, der 1882 von Robert Koch entdeckt wurde, und Geschlechtskrankheiten bei Kindern führten schon vor dem Ersten Weltkrieg zur Forderung nach einem eigenen Bett für alle sowie einer abgeschlossenen Kleinwohnung für Familien. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 ließ keinen Zweifel daran, dass sie eine Verpflichtung zur Herstellung gesundheitlicher Verbesserungen im Wohnungswesen anerkannte. In Art. 155 wurde als Zielsetzung formuliert, «jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohnund Wirtschaftsheimstätte zu sichern.» Daraus leitete sich der «soziale Wohnungsbau» mit umfangreichen Fördermaßnahmen für billige Kleinwohnungen ab. Neue Bauordnungen in den Einzelstaaten sorgten nach und nach für die Einführung neuer gesundheitlicher Standards, wie sie bereits von den Städtebaureformern thematisiert worden waren. Problembereiche blieben die Altstadtkerne der Großstädte, für deren Sanierung kaum Geld zur Verfügung stand. Die Zahl der Tuberkulosefälle war immer noch hoch. 1924 starben jährlich noch 74 000 (1925 noch 66 000 Menschen) an Tuberkulose, danach nahm die Sterblichkeit merklich ab. Allerdings gab es 1933 noch einen Fehlbestand von über einer Mill. Wohnungen, was weiterhin Überbelegung und Wohnungsnot bedeutete. Gegen die Mietskasernenstadt: neue Stadtund Gesellschaftskonzepte Schon die Städtebaureformer wollten mit räumlichen Mitteln nicht nur gesundheitliche Verbesserungen, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen erreichen. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert wurde die Kritik an den Zuständen in der kapitalistischen Großstadt noch radikaler und grundsätzlicher mit Hilfe neuer Stadtkonzepte formuliert, mit denen die Stadtplaner – in Überschätzung ihrer Möglichkeiten – auch die Gesellschaft verändern wollten (Eisinger 2006). Die Gartenstadt Bereits um 1900 übte die von Ebenezer Howard propagierte, zunächst utopisch erscheinende, sehr einflussreiche Gartenstadtidee in Deutschland eine große Attraktion auf Menschen aus, © 2012 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Böhme, Stadtplanung und Gesundheit, 1. Auflage.