Die Suche nach dem Fremden - Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945-1990

von: Dieter Haller

Campus Verlag, 2012

ISBN: 9783593412924 , 395 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 41,99 EUR

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Die Suche nach dem Fremden - Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945-1990


 

2 Rekonstruktion - 1945 bis 1955

Am Ende des Zweiten Weltkriegs lag Deutschland in Trümmern: materiell, ideell, psychisch und physisch. Das nationalsozialistische Deutschland hatte Europa und andere Teile der Welt in eine verheerende Katastrophe geführt, Millionen von Menschen waren ihr zum Opfer gefallen. Im Mai 1945 beendeten die Alliierten diesen Spuk. Sie besiegten das Naziregime und besetzten Deutschland. In den drei westlichen Besatzungszonen begann der Aufbau einer neuen Demokratie.

Die Gesellschaft sehnte sich nach Stabilität, weil die Umstände materiell verheerend waren, die Menschen physisch entwurzelt und psychisch traumatisiert. Viele Deutsche lebten mit dem Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein. Sie wollten nichts mehr von Politik wissen, blickten nach vorn - vorwärts in eine neue, bessere Zeit. Die Älteren verdrängten die Vergangenheit und die eigenen Taten während der tausend Jahre des nationalsozialistischen Regimes. Die junge Generation dagegen wandte sich aus anderen Gründen der Zukunft zu. Sie fühlte sich vom Nationalsozialismus und vom Krieg um ihre Kindheit und Jugend betrogen, wie die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann dies in ihrem Kriegstagebuch beschreibt. So trug gerade der Lebens- und Bildungshunger der Jüngeren dazu bei, dem Schritt in die neue Zeit und in die neue Demokratie die Kraft zur Entwicklung zu geben.

Der Historische Anthropologe, Journalist und Bourdieu-Schüler Nils Minkmar nennt die frühe Bundesrepublik ein Land

'von ausgedachten Geschichten: die Stunde null, die es nicht geben konnte, weil man eine Bevölkerung nicht austauschen kann, der Wiederaufbau, der weder erwünscht noch möglich war, der Zauberspruch ?keine Experimente? zu Beginn einer Staatsform, die in jeder Hinsicht experimentell war. Das Neue war überall, aber überzeugt waren die wenigsten davon. [...] Familie, Sozialordnung, Wertegefüge - alles war umgepflügt, es war ein revolutionärer Start, der genau das nicht sein wollte und seinen umstürzlerischen Charakter durch hemmungslose Biederkeit kompensierte.'

Jenseits aller Parteibindungen dominierte ein autoritärer gesellschaftlicher Geist, der sich etwa in rigiden Moralvorstellungen ausdrückte. Die Dietrich blieb vorsichtshalber in Amerika, die Knef durfte nur kurz Blöße zeigen und die stark gewordenen Trümmerfrauen 'sollten wieder eingefangen und vor eine Küchenzeile gestellt werden. Jede gesellschaftliche Veränderung stand unter Verdacht, einen neuen Totalitarismus gebären zu können'. Allerdings verstanden es Pionierinnen wie die Flensburger Unternehmerin Beate Uhse, die Sexualmoral unter der vorerst funktionalen Begrifflichkeit des ehehygienischen Instrumentariums langsam zu verändern.

Die Nachkriegszeit brachte auch gewaltige demographische Umwälzungen mit sich, insbesondere einen Zuzug von zirka 13 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus Osteuropa. Rund 30 Prozent der Gesamtbevölkerung lebten nicht mehr dort, wo sie aufgewachsen waren. Die alten sozialen Hierarchien waren durch diese Entwicklungen nachhaltig gestört. Unter denen, die aus den ehemaligen Ostgebieten und Osteuropa in den Westen flohen, waren auch viele spätere Ethnologen - alleine oder mit den Eltern.

Die Währungsreform am 21. Juni 1948 half dabei, das Gewesene zu verdrängen. Noch vor Gründung der Bundesrepublik wurde in Trizonesien - den drei Westzonen - die D-Mark als einheitliches Zahlungsmittel eingeführt. Daraufhin wuchs die Wirtschaft schnell und gipfelte Mitte der 1950er Jahre im sogenannten zweiten deutschen Wirtschaftswunder.

Nach der wirtschaftlichen erfolgte die politische Einigung der drei Westzonen. Im April 1949 wurde das Besatzungsstatut der Alliierten Frankreich, Großbritannien und USA verabschiedet und an den Parlamentarischen Rat gesandt; knapp einen Monat später wurde es von den drei Militärgouverneuren und Oberbefehlshabern verkündet. Parallel wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik erarbeitet, es trat am 23. Mai 1949 in Kraft. Das Besatzungsstatut diente dazu, die Militärgouverneure durch zivile Hohe Kommissare zu ersetzen. Es regelte zudem die Zuständigkeiten zwischen der neu formierten deutschen Regierung vom 15. September 1949 und der Alliierten Hohen Kommission (AHK). Damit war die von Anfang an föderal strukturierte Bundesrepublik bis zum Abschluss der Pariser Verträge (1955) nur begrenzt souverän. Das Bildungssystem, und damit der Rahmen, innerhalb dessen sich auch die Universitäten entwickelten, war Ländersache.

Für die Völkerkunde, wie das Fach damals noch uneingeschränkt hieß, bedeutete der Neuanfang, die materiellen, personellen und geistigen Bestände zu sichten, wieder mit der Arbeit an Museen und Universitäten zu beginnen und der wissenschaftlichen Fachvereinigung DGV erneut Leben einzuhauchen. Außerdem galt es, den Austausch mit der internationalen Kollegenschaft wieder aufzunehmen.

Die Umstände, unter denen man arbeitete, waren nach heutigen saturierten Maßstäben miserabel. Die materiellen Schäden werden im Bericht über das erste Treffen der Völkerkundler nach dem Krieg, 1946 in Frankfurt, aufgelistet. Universitäts- und Museumsgebäude lagen vielerorts in Schutt und Asche, die Museumsbestände waren zerstört oder ausgelagert. Die Bibliotheken in Lübeck und Berlin waren in Flammen aufgegangen. Die anthropologischen Gesellschaften ruhten und mussten bei den Besatzungsmächten ihre Wiederzulassung beantragen.

Viele Völkerkundler hatten während des Krieges ?im Feld? gestanden, mancher - wie Frobenius' Kronprinz Ewald Volhard oder der Leipziger Willy Schilde - war ?gefallen?. Einige der Überlebenden waren, von den psychischen Verletzungen einmal abgesehen, physisch kriegsversehrt, wie der Frobenide Helmut Straube. Die meisten Emigranten blieben im Ausland, etwa Leonhard Adam, Herbert Baldus, Paul Leser, Otto Maenchen-Helfen und Heinz Wieschhoff. Nur Pater Wilhelm Koppers und Robert von Heine-Geldern kehrten nach Wien zurück. Julius Lips nahm 1948 einen Ruf an die Universität Leipzig an.

Lediglich das Frobenius-Institut zeichnete sich durch eine Distanz zum Natio­nalsozialismus aus - '[e]s war aber auch kein Institut des heldenhaften Wider­standes.' Insgesamt aber zeichnete sich die deutsche Völkerkunde in der Nachkriegszeit durch eine starke personelle und mentale Kontinuität aus. Sie war dem System des Nationalsozialismus weitgehend verbunden gewesen und vorerst überdauerten die alten Eliten. Sie blieben zumeist lange in Amt und Würden. Die frühen Schüler der NS-Völkerkundler verharrten in einer Mischung aus professioneller und persönlicher Abhängigkeit von den Alten. Dies war ihrem Zukunftsoptimismus geschuldet und dem Einverständnis, das Vergangene ruhen zu lassen. Erst eine neue Ethnologengeneration wird Ende der 1960er Jahre den Nationalsozialismus der Väter thematisieren.