Institutionelle Diskriminierung - Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule

von: Mechtild Gomolla, Frank-Olaf Radtke

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2009

ISBN: 9783531915777 , 303 Seiten

3. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 46,99 EUR

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Institutionelle Diskriminierung - Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule


 

Kapitel 8 Entscheidungsstelle: Überweisung auf die Sonderschule für Lernbehinderte (S. 193-194) ,

Im folgenden Kapitel geht es um schulische Handlungsstrukturen, die am Zustandekommen der überproportionalen Anteile von Migrantenkindern in den Sonderschulen für Lernbehinderten (SOLB) ursächlich beteiligt sind. Im Vordergrund steht auf einer eher deskriptiven Ebene einerseits die Frage, inwieweit mangelnde Deutschkenntnisse und Zuschreibungen in bezug auf einen differenten kulturellen Hintergrund von Migrantenkindern und ihren Familien als Begründungsressourcen herangezogen werden, wenn es um die Einleitung eines SAV oder die Entscheidung für eine Überweisung auf eine SOLB geht.

Andererseits ist auf einer stärker erklärenden Ebene die Einbettung von Praktiken in die organisatorischen Handlungsstrukturen und Verfahrensweisen der Schule sichtbar zu machen, die für Migrantenkinder diskriminierende Wirkungen entfalten und/oder einen sozialschichten- und geschlechtsspezifischen Bias aufweisen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf Kumulationseffekten, die aus der Interaktion segregierender Fördermaßnahmen bei der Einschulung bzw. an früheren Stellen der Schullaufbahn mit der allgemeinen Leistungshomogenisierung in der Grundschule entstehen.

Die Analyse folgt der gleichen Herangehensweise wie bei der Einschulung. Bei den Befunden handelt es sich nicht um das Ergebnis von Prozeßanalysen, die über den Verlauf konkreter Einzelfälle Auskunft geben oder zur Klärung der Frage dienen könnten, ob die Einleitung eines SAV und die getroffene Entscheidung im Einzelfall gerechtfertigt ist. Angestrebt wird vielmehr ein theoretischer Erklärungsansatz für das deutlich höhere Selektionsrisiko, dem Migrantenkinder auf ihrem Weg durch die Grundschule ausgesetzt sind.

Zu diesem Zweck werden schulische Entscheidungspraktiken im Zusammenhang mit der Einleitung und Durchführung eines Sonderschulaufnahmeverfahrens im Sinne von Idealtypen rekonstruiert, in denen die Befunde aus einer Vielzahl von Interviews verdichtet sind. Zunächst werden die schulrechtlichen Rahmenbedingungen und die organisatorischen Handlungsmöglichkeiten skizziert, die das Handeln der Akteure steuern, sowie die pädagogischen Wissensbestände, auf die die beteiligten Lehrerinnen in ihren Probleminterpretationen, Prognosen und Klassifikationen zurückgreifen können. Anschließend werden eine Anzahl von Entscheidungs- und Begründungsmustern im Zusammenhang mit der Einleitung und Durchführung eines SAV analysiert, die sich als institutionel le Ursachen des deutlich höheren Selektionsrisiko für Migrantenkinder an dieser Schnittstelle begreifen lassen.

Institutionelle und organisatorische Rahmenbedingungen Schulrechtlicher Entscheidungskontext in Nordrhein-Westfalen (NRW)1 In NRW trat am 30. 8. 1995 der „Einführungserlaß zum Gesetz zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Schulen“ in Kraft (Kultusministerium NRW 1995). Mit dieser neuen Gesetzgebung reagierte das Land auf die 1994 von der Kultusministerkonferenz (KMK) neu herausgegebenen Empfehlungen zur Sonderpädagogischen Förderung, in denen nicht mehr vorrangig die separaten Sonderschulen als Lernort für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf festgeschrieben sind, sondern eher von personenbezogener Förderung die Rede ist und erstmals dem gemeinsamen Lernen in der Allgemeinen Schule Priorität eingeräumt wird.

Für die vorliegende Untersuchung sind noch die in den siebziger und achtziger Jahren verabschiedeten Regelungen zum SAV und zur Unterrichtung ausländischer Schülerinnen relevant (Kultusministerium NRW 1973, 1978, 1982). Die Interviews im Zusammenhang mit der Entscheidungsstelle Übergang auf eine Sonderschule für Lernbehinderte wurden im Frühjahr 1994 abgeschlossen. Nach der alten Gesetzgebung wird die Klientel der unterschiedlichen Formen der Sonderschule in der Allgemeinen Schulordnung (ASchO) des Landes Nordrhein-Westfalen negativ als Gruppe derjenigen Schüler bestimmt, die im allgemeinen Schulsystem nicht teilnehmen bzw. nicht hinreichend gefördert werden können (vgl. Kultusministerium NRW 1978, Margies u. a. 1990, S. 199).

In den Erlassen zum SAV werden die unterschiedlichen Behinderungen aufgeführt, die eine Sonderschulbedürftigkeit zur Folge haben können und die entsprechenden Sonderschulformen spezifiziert (KM NRW 1973)2.