Ich bleibe hier

Ich bleibe hier

von: Marco Balzano

Diogenes, 2020

ISBN: 9783257610079 , 288 Seiten

3. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 10,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ich bleibe hier


 

Um bloß nicht uns nehmen zu müssen, stellten sie lieber halbe Analphabeten aus Sizilien und dem ländlichen Venetien ein. Ob die Tiroler Kinder etwas lernten, kümmerte den Duce sowieso herzlich wenig.

Wir drei verbrachten die Tage damit, niedergeschlagen über den belebten Dorfplatz zu schlendern, wo bis zum Abend die Straßenhändler ihre Waren anpriesen und die Frauen sich um die Karren scharten.

Eines Morgens kam uns der Pfarrer entgegen. Er schob uns in eine menschenleere Gasse mit Moosflecken an den Mauern. Wenn wir wirklich unterrichten wollten, sagte er, müssten wir in die Katakomben gehen. In die Katakomben gehen hieß, heimlich Deutsch zu unterrichten. Das war illegal und bedeutete Geldstrafen, Prügel und Rizinusöl. Man konnte sogar auf eine abgelegene Insel verbannt werden. Barbara lehnte sofort ab, Maja und ich sahen uns unschlüssig an.

»Da braucht ihr nicht noch lange darüber nachzudenken!«, drängte uns der Pfarrer.

Als ich es daheim erzählte, fing Mutter an zu schreien, dass ich in Sizilien bei den Negern landen würde. Vater dagegen meinte, es sei eine gute Sache. Eigentlich wollte ich es gar nicht, ich war nie mutig. Aber ich hatte mich dazu entschlossen, um vor Erich zu glänzen. Ich hatte ihn sagen hören, dass er zu den klandestinen Versammlungen ging, sich deutsche Zeitungen besorgte, zu einem Zirkel gehörte, der den Anschluss an Deutschland befürwortete. In den Katakombenschulen zu unterrichten war für mich eine gute Gelegenheit, um ihn zu beeindrucken und gleichzeitig herauszufinden, ob Lehrerin zu werden wirklich das war, was ich im Sinn hatte.

 

Der Pfarrer wies mir einen Keller in St. Valentin und Maja einen Stall in Reschen zu. Gegen fünf Uhr nachmittags machte ich mich auf, da war es schon dunkel. Oder manchmal sonntags vor der Messe, und auch da war es dunkel. Keuchend trat ich in die Pedale, fuhr über Schotterwege, von deren Existenz ich vorher nichts wusste. Wenn sich ein Blatt bewegte oder eine Grille zirpte, erschrak ich fürchterlich. Vor dem Dorf versteckte ich das Fahrrad hinter einem Gebüsch und ging mit gesenktem Kopf weiter, um keinem Carabiniere aufzufallen. Inzwischen kamen sie mir mehr wie Motten vor, diese verfluchten Carabinieri. Ich sah sie überall.

Im Keller von Frau Martha stapelten wir Korbflaschen und alte Möbel aufeinander und setzten uns auf Strohhaufen. Wir sprachen leise, denn man musste auf die Geräusche von draußen achten. Ein paar Schritte im Hof genügten, um uns in Panik zu versetzen. Die Buben waren tapferer, die Mädchen dagegen schauten mich mit flackerndem Blick an. Es waren Siebenjährige, und ich lehrte sie Lesen und Schreiben. Ich nahm ihre Hände und umschloss sie mit meiner Faust wie mit einem Panzer. So half ich ihnen, die Buchstaben des Alphabets nachzumalen, die Wörter, die ersten Sätze. Anfangs schien es aussichtslos, doch dann, von einem Abend zum anderen, konnten sie auf einmal etwas buchstabieren, lasen nacheinander laut vor und fuhren mit dem Finger die Zeile entlang, um ja nicht den Faden zu verlieren. Deutsch zu unterrichten war wunderschön. Es gefiel mir so gut, dass ich manchmal vergaß, eine klandestine Lehrerin zu sein. Ich dachte an Erich, er wäre stolz gewesen, wenn er mich hätte sehen können, wie ich da unten auf ein Stück Schiefer Buchstaben und Zahlen schrieb, die die Kinder abschrieben und gedämpft im Chor wiederholten. Auf dem Heimweg machte ich meine Haare auf, weil die Kopfschmerzen sonst nicht nachließen. Doch selbst das Kopfweh war eine gute Gesellschaft, es lenkte mich von der Angst ab.

 

Eines Abends traten zwei Carabinieri die Türe ein, als ob wir Verbrecher wären. Ein kleines Mädchen fing zu schreien an, die anderen flüchteten sich in die Ecken und drehten sich zur Wand, um nichts zu sehen. Nur Sepp blieb an seinem Platz, ging dann langsam zu einem der beiden hin und beschimpf‌te ihn mit einer verhaltenen Wut, die ich nie vergessen werde. Der Carabiniere verstand kein Deutsch, versetzte ihm aber mit voller Wucht eine Ohrfeige. Der Bub rührte sich keinen Zentimeter. Er weinte nicht, sondern starrte den Mann weiter hasserfüllt an.

Als alle hinausgegangen waren, zertrümmerten die Carabinieri die Tafel an der Wand, traten gegen die Korbflaschen, warfen die Möbel um.

»Du kommst ins Gefängnis!«, schrien sie, als sie mich aufs Rathaus schleppten.

Die ganze Nacht schlossen sie mich in einem kahlen Raum ein. An der Wand hing ein Bild von Mussolini, die Hände in die Seiten gestemmt, mit stolzem Blick. Es hieß, er wäre sehr beliebt bei den Frauen, und ich grübelte, was denn an ihm so anziehend war. Sobald ich einnickte, trat ein Carabiniere herein und hieb mit einem Stock auf den Tisch, um mich zu wecken. Er leuchtete mir mit einer Lampe ins Gesicht und fragte immer wieder: »Wer verschafft dir das Material?« – »Wo verstecken sich die anderen klandestinen Lehrer?« – »Wer sind die Eltern der Kinder?«

Als Vater mich abholen kam, rissen sie ihm den Schnurrbart aus, wie sie es immer machten bei denen, die ihnen nicht passten. Anschließend knöpften sie ihm einen Haufen Geld ab. Ich fühlte mich hundeelend, hatte Magenkrämpfe und blutunterlaufene Augen. Ich dachte, dass Vater mir nun verbieten würde zu unterrichten, doch während er mir am Brunnen mit einem nassen Lappen das Gesicht abwischte, sagte er: »Jetzt bleibt dir nichts anderes übrig, als weiterzumachen.«

 

Wir zogen um und trafen uns jetzt bei einem Kunden von Vater auf dem Speicher. Alle kamen wieder, nur das kleine Mädchen, das zu kreischen begonnen hatte, wollte nicht mehr mitmachen. Meine Schüler hatten nichts als ein Blatt Papier, manchmal nicht einmal das. Einige rissen einfach eine Seite aus dem Heft, das sie in der italienischen Schule benutzten, zu deren Besuch sie ja verpflichtet waren. Am Ende des Unterrichts ließ ich sie durch die Hintertür hinaus. Einmal, als es plötzlich klopf‌te, kletterten wir hastig aufs Dach, schnell wie die Mäuse. Ich hielt die Kinder alle an mich gedrückt vor Angst, dass sie hinunterrutschen könnten, und hinterher kam die Hausherrin und sagte lachend, es sei der Bäcker gewesen, der das Brot lieferte.

Im Sommer wurde alles leichter. Wir hielten unseren Unterricht inmitten der Felder ab, und die Sonne und all das Licht verjagten hässliche Gedanken. Im Freien wurde es zum Spiel, die klandestine Schule zu tarnen. Stundenlang probten wir ein Stück, das ich an Weihnachten auf Majas Bauernhof auf‌führen wollte. Wir lasen Andersens Märchen und Grimms Märchen, aber auch verbotene Gedichte, die ich noch auswendig konnte, weil ich sie als Kind gelernt hatte, als es noch die österreichische Schule gab. Ab und zu ließ mich ein Geräusch von der Straße verstummen, dann nahm Sepp meine Hand und beruhigte mich mit seinen eisigen Augen. Jahre später erfuhr ich, dass Sepp einer der jüngsten Kollaborateure der Nazis geworden war. Er selektierte die Häftlinge im KZ Bozen.

Jede Nacht träumte ich von den Carabinieri und den Schwarzhemden. Schweißgebadet fuhr ich aus dem Schlaf hoch und starrte dann stundenlang an die Decke. Ich konnte erst wieder einschlafen, wenn ich das ganze Haus durchsucht und mich vergewissert hatte, dass wirklich nirgendwo einer versteckt war. Ich schaute auch unters Bett, in den Schrank, und Mutter, die einen leichten Schlaf hatte, fragte von nebenan: »Trina, wieso um alles in der Welt bist du um diese Zeit auf?«

»Ich sehe nach, ob Carabinieri im Haus sind!«, erwiderte ich.

»Unter dem Bett?«

»Ehm …«

Dann hörte ich, wie sie sich zur Seite drehte und murmelte, ich sei ja nicht ganz bei Trost.

Die Katakombenschulen nahmen unterdessen zu. Die Schmuggler brachten uns aus Bayern und Österreich Hefte, Rechenbretter und Tafeln mit. Sie gaben alles den Pfarrern, die das Material dann sortierten. Obwohl die Faschisten sich anstrengten und überall ihre Schilder Deutsch sprechen verboten anbrachten, konnten sie nichts und niemanden italianisieren und wurden immer gewalttätiger.

Als es wieder Winter wurde, begannen die Kinder, sich zu verkleiden, um die Carabinieri zu täuschen. Sie erschienen bis obenhin vermummt in dicken Mänteln, als ob sie Fieber hätten, in notdürftig zusammengeflickten Arbeitshosen, herausgeputzt, als müssten sie gerade zur Erstkommunion … Wenn ich abends heimradelte und endlich unser Haus auftauchte, wo hinter den verrußten Scheiben die Petroleumlampe brannte, lachte ich vor Erleichterung, dass ich ein weiteres Mal davongekommen war.

 

Eines Tages machte ich mit Barbara einen Ausflug. Wir küssten uns im Gras, und als wir aufstanden, waren unsere Kleider zerknittert. Es machte uns Spaß, aber warum wir es taten, wüsste ich nicht zu sagen. Vielleicht braucht man, wenn man noch so jung ist, nicht unbedingt einen Grund. Wir saßen auf einem gefällten Baumstamm, und Barbara hielt ein Tütchen mit Schokoladenkeksen in der Hand.

»Auf Deutsch zu unterrichten gefällt mir«, erzählte ich ihr mit vollem Mund, »und zu wissen, dass ich damit etwas gegen die Faschisten tue, gefällt mir noch besser.«

»Hast du gar keine Angst?«

»Na ja, am Anfang habe ich mich schon ein wenig gefürchtet, aber inzwischen habe ich gelernt, die Gesichter der Kinder zu beobachten. Wenn sie entspannt sind, werde auch ich ruhig.«

»Diese Schweine haben mich nicht einen Tag unterrichten lassen«, sagte sie...