Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken

Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken

von: Nina Böhmer

HarperCollins, 2020

ISBN: 9783749950379 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken


 

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TRAUMBERUF »ÄRZTERIN«

Ich bin keine Samariterin. Aber ich habe früh in meinem Leben den Wunsch verspürt, Kranken zu helfen, damit sie – wie man so schön sagt – schnell wieder auf die Beine kommen. Der Impuls, für Schwächere da zu sein, treibt mich bis heute. Er ist es, der mich morgens um 5 Uhr aufstehen lässt, um zur Frühschicht zu gehen. Er motiviert mich, den Stress und manchmal auch den Irrsinn eines Krankenhauses auszuhalten. Mein Job wird garantiert nie vergnügungssteuerpflichtig sein. Für mich ist er dennoch auch Vergnügen. Es bereitet mir Freude, für andere da zu sein. Schon als Kind stand für mich fest, dass ich, wenn ich groß und stark bin, einen Beruf ausüben werde, der es mir – klingt pathetisch, ist aber wahr – ermöglicht, Dienst am Menschen zu tun.

Eine Zeit lang favorisierte ich Physiotherapeutin, dann wieder Pathologin. Am Ende wurde ich Krankenschwester – und das war gut so. Als kleines Mädchen wollte ich eigentlich unbedingt Ärztin werden. Ich war noch zu klein, um das Wort meines Traumberufs richtig aussprechen zu können, und sagte »Ärzterin«. Ich liebte es, in Büchern über Mediziner und ihr Schaffen zu blättern. Ich hatte ein medizinisches Lexikon für Kinder, in dem in einfachen Worten erklärt wurde, was ein Stethoskop ist, warum man Menschen röntgt und was Bakterien und Viren anstellen können. Ich erfuhr spannende Dinge aus der Geschichte der Medizin, was die Pest im Mittelalter anrichtete und wie Operationssäle vor hundert Jahren aussahen.

Aus Papiervorlagen bastelte ich menschliche Körper. Und ich spielte stundenlang mit dem alten Verbandskasten aus dem Auto meiner Eltern. Vor allem das Verbandszeug und Pflaster hatten es mir angetan. Ich übte, meistens an mir selbst, Verbände an Armen und Beinen anzulegen. Wenn es in der Schule hieß, wir sollten ein Referat halten, entschieden sich andere Mädchen und Jungen für Ausarbeitungen über Tiere oder Naturereignisse. Ich widmete mich Themen wie Bulimie oder Magersucht. Ich weiß bis heute nicht, warum mich schon als Schülerin Krankheiten so fesselten – und vielleicht dachten auch einige in der Klasse, ich sei merkwürdig. Das war mir egal. Meine Großeltern nahmen mich als Zehnjährige mit zu der allerersten Berliner Ausstellung »Körperwelten« von Gunther von Hagens, der Mann, der Leichen »plastiniert« und öffentlich präsentiert. Die Schau im Jahr 2001 war hochumstritten, was ich als Kind nicht mitbekam. Ich war jedenfalls begeistert.

Im Unterricht hatte ich Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Die Lehrer bescheinigten mir, leicht ablenkbar und träumerisch zu sein – und ich wage nicht, es zu bestreiten. Aber ehrlich gesagt, war ich auch ziemlich faul. Einige Fächer interessierten mich zu wenig oder gar nicht, weshalb ich nicht für sie lernte. Ich beendete die Schule mit einem erweiterten Hauptschulabschluss.

Im Rückblick glaube ich, dass es unser Schulsystem jungen Leuten nicht gerade leicht macht, sich auf das Berufsleben vorzubereiten. Wie viele Jugendliche wissen mit 16 Jahren noch immer nicht, was sie später werden wollen. In handwerkliche Berufe zieht es die wenigsten. Wie viele Sachen, die man in der Schule lernen muss, nutzen einem später? Die meisten geraten doch ganz bald in Vergessenheit. Ich finde, man erfährt in der Schule nicht genug Wichtiges fürs Leben. Wie wäre es mit einem Unterrichtsfach, in dem man ganz speziell auf das Leben im Erwachsenenalter vorbereitet wird, in dem man Wissen vermittelt bekommt, das einem hilft, im Alltag besser klarzukommen? Warum bekommt man nicht beigebracht, auf was man beim Abschluss von Verträgen mit dem Vermieter, der Versicherungsfirma und dem Energielieferanten oder worauf man bei der ersten Steuererklärung achten soll? Oder wie man einen Kredit aufnimmt und das Tappen in die Schuldenfalle vermeidet?

In der 9. Klasse sollte sich jeder für zwei Wochen einen Praktikumsplatz suchen, um zu testen, welcher Beruf zu einem passt. Um das Glück zu finden, musste ich nicht in die Ferne schweifen: Der Nachbarin meiner Oma gehörte ein Labor für Zahntechnik, in dem ich mein Praktikum absolvieren konnte. Zu der Zeit war ich allerdings sehr, sehr schüchtern, manchmal bekam ich stundenlang keinen einzigen Pieps heraus. Ich fragte so gut wie nichts, sondern beobachtete einfach, wie die Angestellten Voll- oder Teilprothesen, Kronen, Implantate und Brücken herstellten, hier etwas wegfeilten, dort etwas dransetzten. Ich bin ein Autodidakt, ein Mensch, der begreift, indem er Anderen beim Schaffen zusieht. Genauso hatte ich als Kind gelernt, etwas Klavier zu spielen, ohne dass ich auch nur eine einzige Note lesen konnte.

Die Begeisterung über meine Anwesenheit hielt sich in der Praxis anfangs in ziemlich engen Grenzen. Die Mitarbeiter deuteten mein Schweigen falsch: nämlich als Desinteresse an ihrer Arbeit. Das war Unsinn, wie sie bald merkten. Ich hatte mir bei ihnen – im wahrsten Sinne des Wortes – abgeguckt, wie man ein Gebiss modelliert. Sie machten die Probe aufs Exempel und drückten mir zwei Zahnmodelle in die Hand, ein fertiges und ein unfertiges, und gaben mir den Auftrag, aus dem unvollendeten ein vollendetes zu machen. Ich sollte mit Wachs einen Zahn nachbauen. Ich tat still meine Arbeit, war ganz konzentriert und voll in meinem Element. Ich brauchte nicht lange – und schon war das Werk vollendet. Eine Zahntechnikerin verglich beide Modelle und – ich schwöre, es war so – sie konnte nicht glauben, dass ich auf Anhieb etwas geschafft hatte, wofür andere normalerweise doch viel länger brauchten.

Ich freute mich wie die Zahnfee. Tatsächlich hatte ich Eindruck hinterlassen. Sie drückte mir gleich noch ein Modell in die Hand, dann noch eins und noch eins und noch eins. Ich gab ihnen das Vertrauen in mich zurück, wenn man so will: Zahn um Zahn. Alles war wunderbar, fast wie im Traum. Es wäre noch schöner geworden, wenn ich im Kopfrechnen besser gewesen wäre. Beim Herstellen von Gips hörte meine Zauberkunst auf: Die Zahnfee war zu doof, das richtige Mischverhältnis auszurechnen – Zahn ja, Zahl nein. Und dennoch: Ich liebte dieses Praktikum, hätte am liebsten sofort die Schule abgebrochen und in dem Labor angefangen zu arbeiten. Nicht nur mir ging es so, sondern auch einigen anderen Mitschülern, die in der Zeit ihres Praktikums total happy waren – weitaus mehr als in der Schule.

Ich bedauerte, dass mein Praktikum so kurz war. Seither bin ich felsenfest davon überzeugt, Schule würde vielen Kindern und Jugendlichen mehr Spaß machen, wenn sie weitaus praxisorientierter wäre, als sie es ist. Ich bin sicher, dass die Schulabschlüsse dann besser wären, weil viele dann eine andere Motivation hätten. Fächer wie Physik, Chemie und Mathe sollten ab der 7. Klasse abwählbar sein und die Schule generell 12 Jahre dauern. Ein komplettes Jahr sollte dabei allerdings nur für Praktika reserviert sein, in denen sich Jugendliche ausprobieren können. Das könnte ihre Entscheidung über den künftigen Berufsweg erleichtern. Gerade in der Welt wie der heutigen, in der sich durch die Digitalisierung alles immer schneller dreht, wäre es wichtig, wenn Schule Halt und Orientierung gäbe, statt nur auf Wissensvermittlung zu setzen. Sie ist wichtig, aber nicht alles.

Ich stelle es mir so vor: Jede Schülerin und jeder Schüler kann das Praktika-Jahr flexibel und individuell gestalten, sodass man mehrere Stationen absolviert und das mit den Fächern im Unterricht verbindet. Warum soll sich eine Schülerin, die Blumenbinderin werden will, mit dem Satz des Pythagoras herumärgern? Warum sollte ein Junge, der eine Ausbildung im Einzelhandel anstrebt, weiter Physik büffeln und frustriert sein, weil er es nicht kapiert oder gar nicht wissen will, warum atomare Teilchen dieses oder jenes tun. Umgekehrt müsste ein Mädchen, dessen Interesse für einen medizinischen Beruf im Praktikum erwacht, selbstverständlich weiter Biologie lernen müssen. Es muss ja wissen, wie der menschliche Körper tickt und natürliche Vorgänge vor sich gehen. Ich glaube, eine Verzahnung von Praktika und Unterricht wäre sehr sinnvoll. Es würde bessere Schulabschlüsse geben und Lernen mehr Spaß machen.

Ich jedenfalls schaffte es nicht zum Abitur, natürlich nicht. Ich schloss also die Schule mit einem erweiterten Hauptschulabschluss ab und wollte eigentlich sofort mit der Ausbildung zur Zahntechnikerin beginnen. Aber die Chefin des Labors, das mich eigentlich haben wollte, vergab den Ausbildungsplatz kurzerhand an ihre Nichte, weil die die Zeit bis zum Beginn ihres Studiums überbrücken musste. Also bewarb ich mich woanders, jedoch erfolglos. Ich war fest entschlossen, einen medizinischen Beruf zu erlernen. Wie so oft in meinem Leben half mir meine Mutter auf die Sprünge. Sie erzählte mir von einem neu geschaffenen Beruf mit dem sperrigen Namen »Staatlich anerkannte/r Sozialassistent/in«. Sie hatte sich erkundigt: Die Ausbildung dauerte nur zwei Jahre und beinhaltete den Abschluss der Mittleren Reife.

Ich entschied mich dafür, schickte ein Bewerbungsschreiben und bestand den Einstellungstest an einer privaten Schule. Ich war froh und hatte ein gutes Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, da meldete sich das Zahntechnikerlabor und bot mir nun doch den Ausbildungsplatz an, weil die Nichte der Chefin früher als geplant ihr Studium aufnahm. Das brachte mich natürlich in die Bredouille. Also doch lieber wieder die Zahnfee geben? Schließlich wusste ich, dass ich den Job im Zahnlabor leicht packen würde. Wieder beriet ich mich mit meiner Mama – und blieb bei der Lehre zur Sozialassistentin, auch weil ich darüber die Mittlere Reife erlangte. Dabei war mir gar nicht so ganz klar, was man in dem Beruf genau...