Es war einmal in Italien - Roman

Es war einmal in Italien - Roman

von: Luca Di Fulvio

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2020

ISBN: 9783732594740 , 716 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Es war einmal in Italien - Roman


 

1

5. März 1870

Königreich Italien – Olengo, Provinz Novara

Eine elendige Schar. Verwahrlost. Mager. Erbärmlich. Ausgemergelte, wachsfarbene Gesichter. Quaddeln an Wangen, Händen und Füßen, die von Heerscharen an Bettwanzen in ihren Lagern zeugten.

Alle trugen das Gleiche, eine verschlissene, mit unzähligen Flicken versehene Uniform. Wären sie nicht so jung, hätte man ihnen nicht mehr viel Zeit auf Erden vorausgesagt. Aber sie waren zwischen vier und siebzehn Jahre alt. Einhundert heruntergekommene, elendige Jungen, aufgereiht am morastigen Hofrand des Königlichen Waisenhauses Erzengel San Michele in Olengo, schwach auf der Lunge und zitternd vor Kälte, Hunger und an diesem Tag auch Aufregung.

Tief über ihnen lastete der Himmel drohend wie ein Fluch, von so dichtem Grau, dass man ihn hätte in Scheiben schneiden können. Ein Gewicht, viel zu schwer, um es je wieder abstreifen zu können.

Aber einer von ihnen würde heute das große Los ziehen.

Und deshalb murmelten sie alle eine endlose Litanei, bewegten die rissigen Lippen zu einem Wiegenlied ohne Hoffnung, einem Gebet ohne Glauben. Teilnahmslos, wie nur die sind, in deren Welt das Wort »Glück« keine Bedeutung hat, wandten sie sich flüsternd an einen Gott, der noch nie etwas für sie getan hatte: »Mach, dass ich es bin … mach, dass ich es bin … mach, dass ich es bin …«

Mach, dass ich der Eine bin.

Am Hofeingang, wo träge die Trikolore des frisch gegründeten Königreichs Italien im Wind flatterte, erschien eine vornehme Dame um die dreißig: die Contessa Silvia di Boccamara, diesen Namen kannten sie alle.

Bei ihrem Anblick hielten die Jungen in ihrem Gebet kurz inne, um es dann noch inbrünstiger fortzusetzen: »Mach, dass ich es bin …«

Hinter ihr tauchte ihr Mann auf, Ippolito Odìn. Er war etwa vierzig Jahre alt und äußerst wohlhabend. Neben ihm lief unterwürfig der Direktor der Einrichtung, gefolgt von drei schwarz gekleideten korpulenten Frauen. Eine von ihnen war die Frau des Direktors, die anderen beiden waren Vinzentinerinnen aus der Basilica San Gaudenzio in Novara – Schwestern der Genossenschaft der Töchter der christlichen Liebe vom heiligen Vinzenz von Paul.

Die Jungen versuchten, einen Blick auf die heranschreitende Contessa zu erhaschen, worauf die unbarmherzigen Erzieher ihre Weidenpeitschen knallen ließen, um sie in Reih und Glied zu halten.

Nur einer von ihnen reckte nicht den Hals, sondern blickte starr vor sich hin und fuhr in seiner Litanei fort, die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er zählte gut sechzehn Jahre, und sein Gebet war nicht wie das der anderen. Denn er wandte sich nicht an Gott. In seinem Kopf sprach er direkt zur Contessa, denn sie war der einzige Gott an diesem Tag: »Nimm mich … nimm mich … nimm mich …«

Die Contessa schritt an den aufgereihten Waisen vorbei, ohne auf ihre Seidenschuhe oder den Saum ihres Kleides zu achten. Sie sah jeden einzeln an, kurz und konzentriert – dann ging sie zügig weiter, und die Zurückgelassenen waren aussortiert.

Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, dachte der Junge noch flehentlicher: Nimm mich … nimm mich … nimm mich …

Die Contessa sah den Jungen neben ihm an. Unmerklich schüttelte sie den Kopf und ging einen Schritt weiter.

Kurz bevor sie ihn ansah, bereute der Junge inständig, sich nicht ordentlich gekämmt zu haben, er hasste die widerspenstige blonde Strähne, die ihm immerzu ins Gesicht fiel. Er bereute, sich nicht das Gesicht gewaschen zu haben, aber auch an diesem Morgen war das Wasser eisig gewesen, und so klebte auf seiner linken Wange ein nunmehr getrockneter Schmutzfleck wie eine Kruste. Er schämte sich für die Jacke und die graue Hose, beide ausgebeult und verschlissen, zusammengenäht aus dem verfilzten Flanell einer Ladung alter Militärdecken. Vor allem aber wäre er gern weniger mager und hochgewachsen. Denn deshalb hatte man ihn schon oft aussortiert: Nur Jungen, die stark genug für die harte Feldarbeit waren, wurden adoptiert. Es ging mehr um Arbeitskräfte als um Söhne.

Dann richtete die Contessa ihren Blick auf ihn. Ihre Augen waren von kräftigem Veilchenblau, das mauvefarbene Kleid hätte nicht besser dazu passen können.

Die Zeit blieb stehen. Der Junge spürte, wie sein ganzer Körper unter der Spannung zu zittern begann. In seinem Inneren bebte es. Sollte er lächeln oder ernst schauen, steif oder entspannt stehen? Sollte er ihr zeigen, was er sehnlichst wünschte, und gelang es ihm zumindest halbwegs, seine Panik zu verbergen?

Nimm mich, dachte er.

»Den nehmen wir«, sagte die Contessa in diesem Moment.

Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er reckte den mageren Brustkorb vor, stand nun kerzengerade, als steckte er in einem Schraubstock. Dann brach ein kurzes heftiges Lachen aus ihm hervor. So kurz, dass es klang wie ein kräftiges Aufstoßen. Sein Herzschlag setzte wieder ein, aber so heftig und schnell wie bei einem wild gewordenen Tier, so übermächtig, dass seine Rippen ihn kaum zu halten vermochten. Niemand außer einem Waisenkind konnte sich wohl vorstellen, was es hieß, ein Leben lang eingesperrt zu sein. Und niemand, der nicht ein Leben lang eingesperrt gewesen war, allein, ohne Familie, konnte fühlen, was er jetzt fühlte.

Heiße Tränen schossen ihm in die Augen, so plötzlich, dass es fast wehtat, aber er kniff kurz und hart die Lider zusammen und biss sich auf die Lippen, um sie zurückzuhalten.

Er wollte schreien, losrennen oder lachen, war aber wie gelähmt von den drei Worten der Contessa. Denn was sie gerade gesagt hatte, wünschte er sich jeden Tag von morgens bis abends. Von ganzem Herzen.

Er öffnete die Augen, und die Contessa trat einen Schritt auf ihn zu.

Er hielt ihrem Blick stand, denn er war ein mutiger und stolzer Junge.

Aber eben noch kein Mann. Wieder setzte sein Herz einen Schlag aus und begann dann wild zu hämmern. Wieder spürte er die Tränen, wieder hielt er sie zurück. Wieder musste er lachen, blieb jedoch regungslos stehen.

Die Contessa musterte ihn ruhig, wie einen Gegenstand. Die Augen des Jungen waren dunkel, aber lebhaft, die Lippen voll, fast mädchenhaft, ohne ihm jedoch etwas Weichliches zu verleihen. Der Kiefer markant. Die Nase war gerade, dabei aber so ausdrucksstark, dass sie Charakter erkennen ließ. Dichte geschwungene Augenbrauen, pechschwarz, bildeten einen schönen Kontrast zu der blonden Strähne, die ihm ins Gesicht fiel.

»Lass mal deine Stimme hören«, verlangte sie.

»Was soll ich denn sagen?«, wollte der Junge wissen.

»Das reicht schon«, antwortete die Contessa.

Dem Alter entsprechend war seine Stimme ein wenig heiser und brüchig, aber es war schon zu hören, dass sie einmal einen schönen Bariton abgeben würde, weder zu hoch noch zu tief.

»Zeig mal die Zähne«, forderte die Contessa.

Und plötzlich, ohne dass er es kontrollieren konnte, ging es mit ihm durch. Vorwitz und Übermut ließen sich einfach nicht zurückhalten, sosehr er es auch versuchte.

»Wie ein Pferd?«, fragte er geradeheraus und schalt sich sofort: Idiot! Warum kannst du deinen Mund nicht halten? Und gleich noch einmal: Idiot, warum nur musst du immer alles kaputtmachen?

»Wie kannst du es wagen!«, rief einer der Erzieher.

Die Contessa verzog keine Miene. »Genau, wie ein Pferd, ein Cavallo«, gab sie zurück. Und fügte hinzu: »Bitte.«

Der Junge wusste, dass er jetzt aufhören musste. Aber wenn er einmal anfing, kam er nicht mehr dagegen an, es war wie ein Zwang. Immer wieder brachte seine Vorwitzigkeit ihm Ärger ein, mit den Erziehern und auch mit sonst jedem, der seinen Weg kreuzte. Ein Teil von ihm wusste, dass es jetzt genug war, aber wie immer gewann der andere: Er bleckte sowohl die obere als auch die untere Zahnreihe, beide schön gerade und blendend weiß – und wieherte. Laut und deutlich.

Die anderen Waisen brachen in lautes Gelächter aus.

»Ruhe!«, bellte der Direktor.

Die Contessa neigte den Kopf zur Seite und runzelte leicht die Stirn. Offensichtlich dachte sie nach.

Ohne den Blick ihrer veilchenblauen Augen von dem Jungen abzuwenden, fragte sie: »Wenn dieser hier nichts taugt, können wir ihn dann zurückgeben?«

Die Menschen hinter ihr erstarrten, entsetzt, nicht nur von der Frage an sich, sondern von der Kaltblütigkeit, mit der sie gestellt worden war.

»Natürlich nicht, meine Liebe«, mischte sich jetzt ihr Ehemann ein. »Er ist doch kein Welpe aus dem Tierheim.«

»Immerhin ist er ein Welpe aus dem Waisenhaus«, gab sie sogleich zurück. Und dann lachte sie leise über ihren Witz, aber so vornehm, wie der Junge sich ein Lachen nie hatte vorstellen können.

Die vinzentinischen Schwestern von San Gaudenzio wussten nicht, wohin mit sich. Mit ihren schwarz gewandeten, ausladenden Hinterteilen wedelten sie hier- und dorthin, wie eine Schar verlorengegangener Hühner.

»Sicher«, meldete sich nun der Direktor zu Wort. »Sollte er Euch arge Probleme bereiten, die mit Strafen, auch körperlicher Art, nicht zu beheben sind, können wir uns natürlich nicht weigern, ihn zurückzunehmen.«

»Und Ihr würdet ihn gegen ein … zahmeres Exemplar umtauschen?«, fragte die Contessa in ihrer unnachgiebigen Art.

Der Junge blickte sie an. Und verstand sofort, was sie damit sagen wollte, denn dumm war er ganz...