Neuropsychologie schizophrener Störungen

von: Cornelia Exner, Tania Lincoln

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2011

ISBN: 9783840921759 , 129 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 19,99 EUR

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Neuropsychologie schizophrener Störungen


 

Darüber hinaus gibt es mit der Schizoaffektiven Störung eine eigenständige Störungskategorie, die sich durch eine „relative Balance zwischen Zahl, Schwere, und Dauer schizophrener und affektiver Symptome auszeichnet“ (S. 95, ICD Forschungskriterien), deren nosologischer Status aber umstritten ist. Bei jenen Patienten, die nicht die Kriterien für diese Kategorie erfüllen, leiden etwa 25 % dennoch unter einer zusätzlichen depressiven Episode (Sirius, 1991). Legt man eine weitere Definition von Depression zu Grunde, z. B. depressive Stimmung, oder erhebt das Lebenszeitrisiko einer einmal an Schizophrenie erkrankten Person, eine Depression zu entwickeln, so liegen die Prävalenzraten sogar deutlich höher (Buckley et al., 2009). Die symptomatische und ätiologische Überlappung zwischen Schizophrenie und affektiven Störungen ist so ausgeprägt, dass verschiedene Forscher dafür plädieren, von nur einem Störungskomplex auszugehen und die bisherige Einteilung in verschiedenen Entitäten in DSM und ICD aufzugeben oder radikal zu erneuern (z. B. Laursen, Agerbo & Pedersen, 2009).

Im Zusammenhang mit Depression ist auch die hohe Suizidrate bei Personen mit einer Schizophrenie zu beachten. In den meisten Publikationen zum Thema wird die Rate versuchter Suizide etwa zwischen 20 und 40 Prozent und die Rate vollendeter Suizide mit circa 10 Prozent angegeben, wobei neuere Übersichtarbeiten, diese Zahl wieder etwas nach unten korrigiert haben (Palmer, Pankratz, Bostwick & Tabraham, 2005). Ein größeres Suizidrisiko besteht bei Betroffenen mit höheren Depressionswerten in der Residualphase sowie bei jenen mit einer höheren Einsicht in das Vorhandensein von Krankheitssymptomen, ihrer Ursache und ihrer Konsequenzen (Krankheitseinsicht). Es gibt zudem Hinweise, dass Personen, die erst in einem höheren Alter eine Schizophrenie entwickeln, eine höhere Suizidrate aufweisen. Die kritische Periode für Suizide liegt in den Jahren nach der ersten akuten Episode (Kuo, Tsai, Lo, Wang & Chen, 2005).

1.4.2 KörperlicheKomorbidität

Die Mehrzahl der Patienten mit Schizophrenie haben zusätzlich mindestens eine chronische körperliche Erkrankung. Die Ursachen hierfür sind komplex, aber beinhalten wahrscheinlich unter anderem die geteilte genetische Vulnerabilität für psychische und physische Erkrankungen, ungesunde Lebensstile, unerwünschte Nebenwirkungen der neuroleptischen Medikation und medizinische Unterversorgung. Hierdurch besteht für diese Personengruppe im Vergleich zur Normalbevölkerung ein etwa 2.6-faches Risiko vorzeitig an einer natürlichen (z. B. kardiovaskuläre, endokrine Erkrankungen oder Erkrankungen des Verdauungstraktes, endzündliche Erkrankungen etc.) oder einer unnatürlichen Todesursache (z.B. Unfällen oder Suizid) zu sterben (Saha, Chant & McGrath, 2007). Das Risiko im Hinblick auf unnatürliche Todesursachen ist für sich genommen zwar sehr viel größer (7.5-fach erhöht), da allein die Wahrscheinlichkeit für Suizid etwa 13??so hoch ist wie in der Normalbevölkerung. Diese beeinflusst aber das Gesamttodesrisiko eines vorzeitigen Todes wenig, welches auch ohne die unnatürlichen Todesursachen im Vergleich zur Allgmeinbevölkerung noch 2.4-fach erhöht ist (Saha et al., 2007). Die Kombination aller erhöhten Risikofaktoren führt zu einer um etwa 20 % verkürzten Lebenserwartung (Newman & Bland, 1991).

1.5 Verlauf und Prognose

Das durchschnittliche Alter bei Erstmanifestation liegt bei Männern im zweiten bis dritten und bei Frauen im späten dritten Lebensjahrzehnt. Obwohl die meisten Frauen und Männer eine erste psychotische Episode in der späten Adoleszenz, bzw. frühem Erwachsenenalter entwickeln, gibt es zweite und dritte kleine Inzidenzausschläge in älteren Altersgruppen. Dies ist zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass bei Frauen auch Spätschizophrenien, post-menopausal auftreten, die auf das Wegfallen der Östrogenprotektion zurückgeführt werden (Riecher-Rossler, 2003). Etwa 75% der Betroffenen erleben in den fünf Jahren vor der ersten akuten Episode eine Prodromalphase, in der sich erste Anzeichen oder Symptome der Schizophrenie herausbilden, etwa Grübeln, quälende Gedanken, Schlafstörungen, Spannung, Nervosität, Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit, Ängste, Interessensverlust, oder übermäßige Sorgen. Rückblickend können in den meisten Fällen diese Symptome mit den Betroffenen rekonstruiert und als Warnsignale für das Auftreten einer neuen akuten Periode genutzt werden. Der weitere Verlauf nach einer akuten Phase ist sehr variabel. Nach ICD-10 werden folgende Verlaufsbilder spezifiziert:

Klassifikation des Verlaufs nach ICD-10
F20.x0 kontinuierlich: keine Symptomremission im Beobachtungszeitraum
F20.x1 episodisch, mit zunehmendem Residuum: zunehmende Entwicklung „negativer“ Symptome in den Krankheitsintervallen
F20.x2 episodisch mit stabilem Residuum: anhaltende aber nicht zunehmende „negative“ Symptome in den Krankheitsintervallen
F20.x3 episodisch remittierend: vollständige oder praktisch vollständige Remission zwischen den psychotischen Episoden
F20.x4 unvollständige Remission
F20.x5 vollständige Remission
F20.x8 sonstige Verlaufsformen
F20.x9 Verlauf unsicher, Beobachtungszeitraum zu kurz

Diese Kategorisierungen lassen viel Interpretationsspielraum und erschweren somit die Kommunikation unter Praktikern wie Forschern. Vor einigen Jahren wurden deshalb von einer Konsensusgruppe (Andreasen et al., 2005) verbindlichere Definitionen der Kriterien vorgelegt. Diesen Definitionen wurden die gängigen Symptomskalen, Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS), Scale for the Assessment of Negative Symptoms (SANS) und Scale for the Assessment of Positive Symptoms (SAPS) und Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS) zu Grunde gelegt. Um von Remission sprechen zu können, muss nach diesen Kriterien ein Wert von „leicht oder weniger“ (PANSS-item-Werte 3; BPRS-item-Werte 3; SAPS und SANS item-Werte 2) gleichzeitig für alle Kernmerkmale (Wahn, Halluzinationen, Desorganisierte Sprache, desorganisiertes Verhalten, Negative Symptome) über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erreicht worden sein.

Sowohl Forscher als auch Praktiker plädieren aber inzwischen zunehmend dafür, sich von einer ausschließlich Symptom-fokussierten Definition des Verlaufs zu verabschieden und das globale oder soziale Funktionsniveau stärker zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Recovery“ relevant, mit dem eine umfassende und längerfristige Genesung von der Störung gemeint ist. Recovery beinhaltet nach Liberman (2008) die Remission von Symptomen, die Teilnahme an produktiven Tätigkeiten wie Arbeit oder Schule, die unabhängige Bewältigung von Alltagsanforderungen sowie herzliche familiäre Beziehungen, Freizeitaktivitäten und befriedigende freundschaftliche Beziehungen. Darüber hinaus betont er die Notwendigkeit, eine zusätzliche subjektive Komponente von Recovery zu berücksichtigen, die Aspekte wie Hoffnung, allgemeine Handlungskompetenz (Empowerment) und Coping beinhaltet.

Die bisher uneinheitlichen Remissionskriterien erschweren eine exakte Aussage zum langfristigen Verlauf. Es lässt sich aber grob festhalten, dass circa 25 % der Betroffenen innerhalb von 5 Jahren nach der ersten oder den ersten Episoden keine weiteren Krankheitsepisoden mehr erleben. Bei circa 30% der Betroffenen treten mehrere Krankheitsepisoden ohne weitere Einschränkungen zwischen den Phasen auf. Etwa 10% erleben mehrere Krankheitsepisoden mit einer gleichbleibenden Einschränkung zwischen den Episoden und etwa 40% mehrere Episoden mit einer zunehmenden Einschränkung (Häfner & an der Heiden, 1999).

Obwohl nicht zu leugnen ist, dass Schizophrenie für die Betroffenen oft massive Auswirkungen im Hinblick auf die Erfüllung beruflicher und sozialer Rollen hat, spricht vieles dagegen, die Prognose für Schizophrenie allzu schwarz zu malen. Von einem global schlechten Verlauf auszugehen, ist nicht nur für Betroffene entmutigend. Es widerspricht der empirischen Datenlage, die sich nicht global im Sinne einer progredienten Verschlechterung der Symptomatik interpretieren lässt. Die Mehrheit der Betroffenen zeigt im längeren Verlauf eine deutliche Verbesserung der Symptomatik und…