Finale - Das letzte Jahr der DDR

von: Hannes Bahrmann, Christoph Links

Ch. Links Verlag, 2019

ISBN: 9783862844647 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Finale - Das letzte Jahr der DDR


 

Um 17 Uhr waren Tausende Menschen in den vier großen Kirchen der Leipziger Innenstadt versammelt. Doch als das wahre Ausmaß der Demonstration erkennbar wurde, erwies sich das Handlungskonzept der Bezirkseinsatzgruppe als obsolet. Später wurde anhand von Filmaufnahmen rekonstruiert, dass 70 000 Menschen auf der Straße waren, um die politischen Verhältnisse in der DDR zu ändern. Es war das Vielfache der angenommenen Menge. Einsatzleiter Hackenberg rief Erich Honecker an, der war nicht zu sprechen. Krenz bat um Bedenkzeit.

Während die Demonstranten über den Georgiring zum Hauptbahnhof liefen, ertönte plötzlich die Erkennungsmelodie des Stadtrundfunks. Nach 1945 hatte die Sowjetische Militäradministration an allen zentralen Plätzen Lautsprecher anbringen lassen, um ihre Befehle zu verkünden. Die Stadtverwaltung hatte diese Kommunikationsform beibehalten. Zehntausende von Demonstranten hörten die Stimme von Gewandhauskapellmeister Kurt Masur. Der verlas einen Aufruf, den der Theologe Peter Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und drei lokale SED-Funktionäre verfasst hatten: »Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung.« Masur verlangte einen »freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land«, der »auch mit unserer Regierung geführt« werden müsse. »Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.«

Die Demonstration verlief ohne Zwischenfälle. Um 18.35 Uhr verzeichnete das Protokoll der Bezirksverwaltung des MfS: »Vorbereitete Maßnahmen zur Verhinderung / Auflösung kamen entsprechend der Lageentwicklung nicht zur Anwendung.« Schon am Abend sendeten die Westsender ARD und ZDF Berichte von der Leipziger Großdemonstration. Die Oppositionellen Siegbert Schefke und Aram Radomski waren trotz mancher Hindernisse von Ost-Berlin nach Leipzig gekommen, hatten sich im Turm der evangelisch-reformierten Kirche am Tröndlinring postiert und die Demonstration mit der Kamera dokumentiert. Spiegel-Korrespondent Ulrich Schwarz brachte die Kassetten nach West-Berlin, wo sie der aus der DDR ausgewiesene Dissident Roland Jahn in der Redaktion der Sendung Kontraste aufbereitete. Nun wurde die Ohnmacht der DDR-Führung für die ganze Welt sichtbar. Eine Woche später versammelten sich in Leipzig 120 000 Demonstranten, und am 23. Oktober waren es schon etwa 300 000.

Z – Hans-Joachim Hanewinckel über den Gewalteinsatz in Halle


»Für den 9. Oktober 1989 um 17 Uhr hatten wir zur ersten Demonstration in Halle an der Marktkirche eingeladen. Sitzend, mit Blumen und Kerzen, wollten wir schweigend für das Hierbleiben eintreten, Reformen anmahnen und die Freilassung der zu Unrecht Inhaftierten fordern. Die Kirche sollte für den Notfall geöffnet sein. Als wir ein Transparent aus der Kirche trugen, um es draußen auszubreiten, sahen wir, dass ein Polizeikessel um uns gebildet wurde. Bis 17 Uhr konnte man noch bis zur Kirche gelangen, aber nicht mehr zurück. Einige der Pfarrer (in Talar) suchten daraufhin das Gespräch mit den Sicherheitskräften, von der Bereitschaftspolizei bis zur Stasi war ja alles vertreten. Auch ich bin ich auf die Polizeikette zugegangen und habe gebeten, den Kessel wieder zu öffnen, damit jene, die noch draußen waren, zu uns reinkommen konnten. Als das an einer Stelle gelang, hat es großen Applaus gegeben. Sofort stürzten Offiziere dazwischen und haben die Polizeikette wieder geschlossen. Mir wurde verboten, mit den Uniformierten weiterhin zu sprechen.

In der Zwischenzeit hatten sich viele Bürger und Bürgerinnen in die Kirche zu einem spontanen Friedensgebet zurückgezogen. Mit Polizei und Staatssicherheit konnte dann ausgehandelt werden, dass alle, die in der Kirche am Gebet teilgenommen hatten, freies Geleit bekamen und abziehen konnten. Dennoch sind einige von ihnen schwer geprügelt worden. Sogar ein Kollege in Amtstracht wurde jämmerlich bedroht, sodass wir sofort einen Kreis um ihn bildeten, um ihn zu schützen.«

Hans-Joachim Hanewinckel, Jahrgang 1943, Pfarrer der Georgengemeinde in Glaucha

P – Erich Honecker: Der Vater der Verschuldung


Am 17. Oktober 1989 trat das Politbüro des Zentralkomitees der SED in Ost-Berlin zusammen. Erich Honecker kam zu spät. Er begann mit der Routinefrage, ob es Zusätze zur Tagesordnung gebe. Ministerpräsident Willi Stoph meldete sich und stellte den Antrag, den Generalsekretär von seiner Funktion abzuberufen. Er fügte hinzu: »Erich, es geht nicht mehr. Du musst gehen.« Es waren die gleichen Worte, mit denen Honecker 18 Jahre zuvor den damaligen Parteichef Walter Ulbricht zum Machtverzicht gezwungen und selbst die Führung übernommen hatte.

Erich Honecker war 1912 im saarländischen Neunkirchen zur Welt gekommen, wo er auch eine Lehre als Dachdecker begann, bevor er sich ganz der politischen Arbeit zuwandte. 1928 wurde er Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes, ein Jahr später stieg er in dessen Bezirksleitung auf. 1930/31 absolvierte er die Internationale Lenin-Schule in Moskau. Nach illegaler Arbeit und Flucht nach Paris 1935 Verhaftung in Berlin. 1937 wurde er zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine Strafe verbüßte er im Zuchthaus Brandenburg, wo auch der zum Tode verurteilte Robert Havemann einsaß. Nach Kriegsende kam Honecker mit der »Gruppe Ulbricht« in Kontakt, die aus Moskau kommend die politischen Bedingungen in Berlin erkunden und die Nachkriegsentwicklung maßgeblich beeinflussen sollte. 1946 wurde er der erste Vorsitzende der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Seine Weltsicht galt manchem Mitstreiter als eher schlicht. Hermann Axen, Politbüromitglied der SED, sagte über ihn: »Für Erich war wichtig, ein Dach überm Kopf zu haben, genug zu essen, warme Kleidung, genug Geld für eine Eintrittskarte fürs Kino am Wochenende und ein Kondom.«

Obwohl in zweiter Ehe verheiratet, begann Honecker 1947 eine Affäre mit der Vorsitzenden der Pionierorganisation, der damals 22-jährigen Margot Feist, die er nach seiner Scheidung 1953 heiratete.

Um seine weitere Parteikarriere zu befördern, ging Honecker 1955 für zwei Jahre nach Moskau an die Parteihochschule der KPdSU und wurde daraufhin 1958 Mitglied des Politbüros des ZK der SED. Zugleich erhielt er den zentralen Posten eines Sekretärs des ZK, er war verantwortlich für Sicherheitsfragen. Sein Gesellenstück lieferte er mit der Abriegelung West-Berlins durch den Bau der Mauer am 13. August 1961 ab. Doch auch nach dem Verschluss der offenen Grenze in Berlin, die Millionen Menschen zur Flucht in den Westen genutzt hatten, wurden die wirtschaftlichen Probleme der DDR nicht kleiner.

Der Chef der Staatlichen Plankommission Erich Apel sollte die DDR-Wirtschaft langfristig auf stabile Grundlagen stellen. Er entwickelte das »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖSPL), mit dem Elemente der Marktwirtschaft in die sozialistische Planwirtschaft übernommen werden sollten. Einige Mitglieder des ZK unter Führung von Erich Honecker betrachteten das Vorhaben mit Misstrauen und fürchteten einen Einflussverlust der Partei gegenüber den wichtiger werdenden Ökonomen und Kybernetikern. In Moskau war 1964 Parteichef Nikita Chruschtschow abgesetzt und von Leonid Breschnew abgelöst worden. Dieser teilte Honeckers Besorgnisse und bremste die Reformbestrebungen mit einem deutsch-sowjetischen Handelsabkommen aus, das die DDR so eng an die UdSSR band, dass kaum noch Freiräume für eigene Entwicklungen vorhanden waren. Kurz vor der Unterzeichnung des Abkommens am 3. Dezember 1965 setzte sich Erich Apel die Dienstwaffe an die Schläfe und beging Selbstmord.

Fortan verband Breschnew und Honecker ein enges Vertrauensverhältnis. Als 1970 die Sowjetunion aufgrund eigener Probleme ihren Lieferverpflichtungen von Erdöl, Steinkohle und Walzstahl in die DDR nicht mehr im vereinbarten Umfang nachkommen konnte, verschärften sich die wirtschaftlichen Probleme in der DDR erneut. Bald machte sich das auch in einer wachsenden Missstimmung der Bevölkerung bemerkbar. Honecker sicherte sich im Politbüro eine Mehrheit mit dem Ziel, Partei- und Staatschef Walter Ulbricht abzusetzen. Am 21. Januar 1971 schrieben 13 der 20 Mitglieder und Kandidaten des Politbüros einen geheimen siebenseitigen Brief an Leonid Breschnew mit der Bitte, Walter Ulbricht abberufen zu dürfen.

Während einer mehrwöchigen Reise Ulbrichts in die Sowjetunion organisierte Honecker daheim den Machtwechsel. Nach der Rückkehr kam es auf Ulbrichts Sommersitz in Dölln zur Entscheidung, wie der Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes Markus Wolf in seinen 1997 veröffentlichten Memoiren berichtete. Honecker kam mit einem schwer bewaffneten Kommando, ließ alle Tore besetzen und die Telefonleitungen kappen. »Honecker schien also entschlossen, seinen Ziehvater festzusetzen, falls dieser sich seinen Forderungen verweigern sollte....