Der weite Weg zu den Sternschnuppen. Oder der schmerzhafte Prozess »Viel-Seitigkeit« anzuerkennen

von: Julia Stern

engelsdorfer verlag, 2013

ISBN: 9783862685547 , 177 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 5,99 EUR

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Der weite Weg zu den Sternschnuppen. Oder der schmerzhafte Prozess »Viel-Seitigkeit« anzuerkennen


 

24. August (S. 8-9)

So, dann fang ich mal an. Tagebuch soll ich führen, damit ich mich und vor allen Dingen die Anderen besser kennen lerne. Die Anderen, wer auch immer das sein mag, ich selbst kenne sie bisher nur aus Erzählungen und Berichten Außenstehender. Ich kann sie manchmal spüren, ‚höre’ sie denken – oder bilde ich mir das doch alles nur ein? Letzte Woche bin ich aus der Klinik entlassen worden. Diagnose: F44.81, dissoziative Identitätsstörung.

Die Nummer geistert wie ein Totem in meinem Kopf herum. Ich kann es immer noch nicht glauben, trotz allem was geschehen ist in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren. Nein, ich will es einfach nicht glauben. So etwas gibt es doch gar nicht. Das ist doch unmöglich. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, und ich, bin doch normal. Ich, das Wort zerfällt vor meinen Augen, wenn ich darüber nachdenke. Ich – wer oder was bin ich denn nun eigentlich? Bin ich die, deren Name im Personalausweis steht, oder wie muss ich das jetzt verstehen? In meinem Kopf ist ein heilloses durcheinander.

Tausende von Fragen bestürmen mich, alle zur gleichen Zeit. Vor allem: Wie ist das möglich, dass ich so lange damit leben konnte ohne dass scheinbar Irgendjemand etwas davon bemerkt hat? Auch dass haben sie mir erklärt, aber ich will es einfach nicht begreifen. Das Chaos bahnt sich seinen Weg in mein Bewusstsein, nistet sich fest, und wird dort für sehr lange Zeit seine Zelte aufschlagen. Wie lang, werde ich in der nächsten Zeit schmerzlich erfahren dürfen. Acht Wochen war ich in der Klinik, immer wieder habe ich versucht die Diagnose in Frage zu stellen, habe diskutiert, hin und her überlegt, ja sogar versucht zu feilschen, ob es nicht doch ein Irrtum sein könnte. Sicher, ich vergesse schon so einiges, aber das passiert doch jedem. Und das ich mich nicht immer an alles erinnere, na und? Das ist eben Stress.

Das ich mit unterschiedlichen Stimmen rede? Das haben die sich doch nur eingebildet, weil sie es gerne so hätten. Kinderbilder in meinem Zimmer? Wer sagt denn dass ich sie gemalt habe? Nein, nein, das kann einfach nicht richtig sein. Sie müssen sich da geirrt haben. Zugegeben, es geht mir seit einigen Jahren immer mal wieder nicht so gut, und ich hatte schon eine Ahnung, dass da Dinge in meinem Leben geschehen sind, die nicht ganz so lustig waren, um es mal nett auszudrücken. Aber jetzt lief es doch eigentlich wieder ganz gut. Gute zwei Jahre war ich recht stabil, von kleineren Höhen und Tiefen mal abgesehen, aber die haben andere Menschen auch.

Und wie bereits erwähnt, Jeder vergisst doch mal was oder kann sich nicht immer an alles erinnern, oder? Nun gut, im letzten Sommer gab es einen wirklich mehr als unangenehmen Vorfall mit meinem Chef, aber im Grunde hab ich auch davon nicht wirklich viel mitbekommen, erst als es vorbei war. Genau wie immer, war es mehr eine Ahnung, als eine Erinnerung. Aber das ist ja typisch für mich. Anders kenne ich das gar nicht. Einige Wochen habe ich schon daran zu knabbern gehabt, aber dann dachte ich mir, was soll es, was auch immer da war, es ist doch nur eine weitere Kerbe auf deinem Holz. Eine mehr, darauf kommt es nun auch nicht mehr an.