Der begegnungsorientierte Ansatz bei Menschen mit Demenz - Wahrnehmen, erkennen, begegnen

von: Sebastian Kraus

Kohlhammer Verlag, 2019

ISBN: 9783170369795 , 197 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 25,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der begegnungsorientierte Ansatz bei Menschen mit Demenz - Wahrnehmen, erkennen, begegnen


 

Einleitung


 

 

 

Unsere Arbeit mit Menschen mit Demenz ist ein fortlaufender Prozess der Entwicklung. Sie wirft Fragen auf, führt zu Antworten, anderen neuen Fragen. Eine zentrale Frage, die uns in unserer Praxis begleitet, ist die nach dem Weshalb und Warum. Warum zeigt unser Gegenüber in der konkreten Situation ein gewisses Verhalten? Weshalb reagieren Menschen mit Demenz innerhalb der Begegnung auf ein bestimmtes Begegnungsangebot so und nicht anders? Und warum kommt es dabei in manchen Situationen zur Verkennung unserer Handlungsabsichten durch den Anderen?

Wenn es uns nicht gelingt, die tiefer liegenden Ursachen von bestimmten Verhaltensäußerungen zu ergründen, können wir unsere Fragen anders stellen. Statt zu fragen »Warum«, können wir nach dem »Was« fragen, nach dem »Wann« und dem »Wie«.

Was löst eine bestimmte Reaktion und Verhaltensweise bei meinem Gegenüber aus? Wann, an welchem Punkt und in welcher situativen Konstellation kommt es in der Interaktion zu verkennenden Reaktionen oder eskalierenden Situationsentwicklungen? Wie gelange ich mit dem Anderen in Kontakt, wie erreiche ich ihn in der Interaktion und Begegnung?

Während uns das »Warum« dabei mitunter auch zu irrtümlichen Annahmen und zu vorschnellen vielleicht falschen Schlussfolgerungen führen mag, sind die Antworten auf die Frage nach bestimmten situativen Bedingungen, Auslösern und Faktoren in der konkreten Praxis und Interaktion manchmal womöglich leichter überprüfbar.

So erhalten wir auf unsere Frage nach dem Wie eines interaktiven Verlaufs im konkreten Falle vielleicht mitunter eher praktische Antworten und Erkenntnisse für die eigene Arbeit, als bei unserem Versuch, den letztendlichen Grund für die Handlungsweisen des Anderen und für dessen Reaktionen auf uns zu erfahren.

Dennoch kommen wir nicht umhin, nach den Ursachen von Verhalten zu fragen, dabei ist es wichtig für uns, das darin Mitgeteilte zu entschlüsseln und die darin zum Ausdruck kommenden Bedürfnisse und Emotionen wahrzunehmen und zu erkennen.

Ausgangspunkt des begegnungsorientierten Ansatzes war zunächst die im Rahmen der täglichen Arbeit innerhalb eines stationären gerontopsychiatrischen Settings von einer Gruppe von Pflegenden verspürte Notwendigkeit, die bestehende Praxis in der Alltagsbegleitung und Pflege im eigenen Bereich kritisch zu hinterfragen.

Wir begannen damit, das von uns in der täglichen Arbeit und Interaktion mit den bei uns lebenden Menschen mit Demenz Wahrgenommene und Erprobte und die dabei gewonnenen Erfahrungswerte systematischer, als das bislang geschehen war, innerhalb unseres Teams zu besprechen und gemeinsam zu reflektieren.

Wollten wir dabei von einer eher funktional ausgerichteten »Basisversorgung« der auf unserem Bereich untergebrachten Bewohner*innen hin zu einer individuellen Begleitung der bei uns lebenden Menschen mit Demenz gelangen, mussten wir die entsprechenden stationären Arbeitsroutinen und Abläufe anpassen und individualisieren und uns zugleich die Frage stellen, welche pflegerischen Maßnahmen, in welchem Umfang und wann dabei wirklich »zwingend« erforderlich waren und welche nicht.

Wollten wir den bisherigen Einsatz von Psychopharmaka zur Verhaltensmodifikation der bei uns lebenden Menschen reduzieren und im gleichen Zuge die Häufigkeit des Auftretens sogenannter situativer Verkennungen insbesondere dort, wo diese mit Gewalt einhergingen, reduzieren, mussten wir zunächst deren situativen Ursachen und Erscheinungsformen auf den Grund gehen.

Häufig lasen wir in den Epikrisen der von uns neu aufgenommenen Bewohner*innen von »fremdaggressiven« und »herausfordernden« Verhaltensweisen, ohne dabei jedoch nachvollziehbare und für uns Aufschluss gebenden Hinweise auf deren jeweilige situative Entstehung, deren auslösende Momente und darauf, was sich eigentlich in der Interaktion ganz konkret wirklich abgespielt hatte, zu finden.

Hatte sich ein vorausgegangener Vorfall in der Häuslichkeit abgespielt und nicht innerhalb einer Pflegeinrichtung, gab es dazu häufig keine pflegefachlich begründete Einschätzung des Beobachteten und Geschehenen, sondern ausschließlich den Bericht und die darin enthaltene Darstellung und Version der Ereignisse der Person, die die Einweisung selbst veranlasst hatte.

Diese »fremdaggressiven« und nicht selten im Rahmen von Pflegemaßnahmen aufgetretenen Verhaltensweisen wiederum, waren dann oftmals Anlass und Auslöser gewesen, für eine daraufhin eingeleitete klinische Einweisung und die nachfolgende, an den stationären Klinikaufenthalt anschließende Überleitung auf unseren geschlossenen gerontopsychiatrischen Wohnbereich, auch wenn die Unterbringung dort mit einem selbstgefährdendem Verhalten begründet und auf Basis dessen veranlasst worden war.

Selbstgefährdendes Verhalten kann in diesem Zusammenhang beispielsweise bedeuten, sich aufgrund eingeschränkten Orientierungsvermögens und der damit einhergehenden mangelnden Fähigkeit, Risiken »adäquat« einzuschätzen, im Alltag mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst in Gefahr zu bringen.

Solche »selbstgefährdenden« Verhaltensweisen konnten sich dabei mitunter auch in direktem Zusammenhang mit der vorangegangenen Einweisung in die Klinik entwickeln, deren Anlass ja zunächst ein »fremdgefährdendes« Verhalten gewesen war.

Dies geschah etwa dann, wenn die eingewiesene Person, nur im Schlafanzug oder Nachthemd bekleidet, im Rahmen einer »Hinlauftendenz« versucht hatte, die Klinik zu verlassen, um von dort aus »nach Hause zu gehen«, oder aber auch zu einem anderen Ziel zu gelangen und im Zuge dessen nicht witterungsgerecht gekleidet außerhalb der Station draußen aufgefunden wurde.

Auf der anderen Seite konnte sich auch ein »fremdgefährdendes« oder »fremdaggressives« Verhalten im Laufe des Krankenhausaufenthaltes entwickeln und dort festgestellt werden, dem ein »selbstgefährdendes« Verhalten in der Häuslichkeit vorausgegangen war. Dies geschah etwa dann, wenn eine Person in der Häuslichkeit oder innerhalb einer Pflegeeinrichtung bei akutem Delir keine Flüssigkeit oder lebensnotwendige Medikamente mehr zu sich genommen hatte und nach Einweisung in die Klinik bei den medizinischen oder pflegerischen Maßnahmen verkennend und körperlich abwehrend reagiert hatte.

Die Entlassungsmedikation aus dem Krankenhaus enthielt in solchen Fällen zumeist Psychopharmaka mit sedierender Wirkung, wie etwa Risperidon, dies mitunter auch in hoch angesetzter Dosierung.

Vor diesem Hintergrund war es mitunter schwer und nur eingeschränkt möglich gewesen, bei der Aufnahme einen wirklichen Eindruck von den neu bei uns eingezogenen Menschen in ihren jeweiligen individuellen Bedürfnissen und Mitteilungsmöglichkeiten zu gewinnen.

Wir entschlossen uns dazu, die vorhandenen Informationen zur Person, ihre Diagnosen und Krankengeschichte, oder das, was uns von ihrer Biografie und Vergangenheit her bekannt wurde, und uns mögliche Anknüpfungspunkte in der Interaktion bieten konnte, in die Arbeit miteinzubeziehen. Unser Hauptaugenmerk aber galt zunächst einmal dem konkreten und gegenwärtigen Menschen, der uns jetzt gegenüber stand, und nicht demjenigen, der er möglicherweise früher gewesen sein könnte.

Eine klassische Informationssammlung und Anamnese und die damit verbundene Position des Beobachtens und Dokumentierens rückte dabei für uns mehr und mehr in den Hintergrund. An ihre Stelle trat vielmehr eine wahrnehmende Erprobung von möglichen Interaktionen, Fähigkeiten und Begegnungsangeboten und ein neues an den dabei für uns erfahrbar gewordenen Bedürfnissen orientiertes »Assessment«.

Dabei ging es uns weniger um das Sammeln und Dokumentieren von Daten, als vielmehr darum, einen Zugang zu finden, der es uns erlaubte, auch in diesem frühen Zeitpunkt bereits mit dem Anderen in Beziehung zu treten und die pflegerische Versorgung und Begleitung im Rahmen der Begegnung zu organisieren.

Nach einer Zeit der Eingewöhnung und einer schrittweisen Anpassung und Reduzierung der Medikation zeigte sich oftmals dann ein ganz anderes Bild als am Anfang und Aufnahmetag.

Zu unserer damaligen obligatorischen Aufnahmeroutine hatte unter anderem auch die Durchführung eines Minimental Status Tests (MMST) zur Ermittlung des kognitiven Leistungsvermögens und die Erfassung sogenannter »herausfordernder« Verhaltensweisen anhand der Cohen-Mansfield-Skala gehört.

Dabei stellten wir fest, dass die anfänglich, nach den ersten Tagen nach Aufnahme im Minimental-Test ermittelten Werte, oftmals deutlich von den späteren, bei einer Wiederholung des Tests etwa nach sechs Wochen, erzielten Resultate abwichen, die nach einer Zeit der Eingewöhnung und der schrittweisen Reduzierung der Psychopharmaka-Medikation häufig deutlich »besser« ausfielen.

Zugleich aber wurde uns...