Arbeit und Geschlecht im Wandel - Impulse aus Lateinamerika

von: Johanna Neuhauser, Johanna Sittel, Nico Weinmann

Campus Verlag, 2019

ISBN: 9783593442617 , 243 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 30,99 EUR

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Arbeit und Geschlecht im Wandel - Impulse aus Lateinamerika


 

Spätestens seit den 1980er Jahren befinden sich die Arbeitswelten des Globalen Nordens im Umbruch. Die Debatten um den Strukturwandel firmieren seitdem zwar unter den verschiedenen Topoi der »Erosion des Normarbeitsverhältnisses« (unter anderem Offe 1984), der Zunahme »atypischer Beschäftigung« oder der »Prekarisierung« (Castel/Dörre 2009; Dörre u.a. 2013; Standing 2011). Gleichwohl rekurrieren sie auf mehr oder weniger dasselbe Phänomen: In den (ehemaligen) industriellen Kernregionen des Globalen Nordens hat unbefristete, betriebliche Vollzeitbeschäftigung als Normgröße für Arbeits-, Tarif- und Sozialpolitik an Bedeutung eingebüßt, während wohlfahrtsstaatliche Regulierung innerhalb der Arbeitswelt zugunsten von ökonomischer Flexibilisierung insgesamt an Prägekraft verloren hat. Auch die tonangebenden Zukunftsprognosen zur Arbeitswelt aktualisieren diese Diagnose. Sie gehen unter anderem davon aus, dass in einer zunehmend digitalisierten und automatisierten Arbeitsgesellschaft das Arbeitskräftepotential die Nachfrage bald schon deutlich überschreiten und im Zuge dessen konventionelle Lohnarbeit weiter ihre Relevanz einbüßen wird. Es wird prognostiziert, dass die Digitalisierung zur weiteren Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse beitragen und dass unbezahlte, kreative sowie informelle Arbeit zunehmend an Bedeutung gewinnen wird (Brynjolfsson/McAfee 2014; Huws 2014; zu Informalisierung der Arbeit im flexiblen Kapitalismus: u.a. Komlosy 2014; Burchardt u.a. 2013). Zentrales Charakteristikum des Strukturwandels der Arbeitswelt ist, dass Frauen dabei auf besondere Weise benachteiligt sind. In den letzten Jahrzehnten vollzog sich ein Anstieg der weiblichen Erwerbstätigkeit nicht unwesentlich über die Ausweitung der Teilzeitarbeit oder die Integration von Frauen in expandierende Segmente der prekären Beschäftigung. Diese Entwicklungen sind unmittelbar verkoppelt mit einer Reorganisation dessen, was wir im Fortgang des Buches - in Anknüpfung an materialistisch-feministische Perspektiven - als Arbeit in der Sphäre der sozialen Reproduktion verstehen (Laslett/Brenner 1989). Gemeint sind manuelle, mentale oder emotionale Arbeiten, wie Haushaltsarbeit, die Erziehung von Kindern, die Pflege von Bedürftigen, die nicht nur notwendig sind, um die Arbeitskraft zu reproduzieren, sondern um darüber hinaus in umfassender Weise das Leben der gegenwärtigen sowie der nächsten Generation zu erhalten (ebd.: 383). Die überwiegend von Frauen unbezahlt im Haushalt verrichteten Reproduktionsarbeiten stehen durch die Zunahme prekärer Arbeit in der Erwerbssphäre unter einem besonderen Druck: Prekarität betrifft nicht nur Erwerbsbiographien und Arbeitsalltage, sie wirkt »überall« (Bourdieu 1998), auch innerhalb der Lebensbereiche des Privathaushalts. Während in der deutschen Nachkriegszeit bis in die jüngere Vergangenheit Reproduktion über ein Zusammenspiel aus sogenanntem Normalarbeitsverhältnis, sozialstaatlicher Absicherung und traditioneller Arbeitsteilung in der Versorger-Ehe kollektiv reguliert und organisiert war, wird sie gegenwärtig zu einem individualisierten Projekt (Jürgens 2017: 274). In immer mehr Haushalten etablierte sich das Zweiverdiener-Modell bei nur teilweise modernisierter Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, erhöhter Arbeitsbelastung und fehlendem öffentlichen Betreuungsangeboten für Kinder und die wachsende Anzahl Pflegebedürftiger (ebd.). Aufgrund des Abbaus öffentlicher Daseinsfürsorge wird die soziale Reproduktion außerdem zunehmend unter marktwirtschaftlichen Bedingungen reorganisiert. In diesem Segment entstand ein feminisierter und zugleich abgewerteter Care-Arbeitssektor, in dem zu einem hohen Anteil Migrant_innen beschäftigt sind (Lutz 2007). In ihrer Zusammenschau werden diese Dynamiken gegenwärtig als verschärfte »Krise sozialer Reproduktion« verstanden (unter anderem Winker 2013; Becker-Schmidt 2011; Klinger 2013; Haubner 2017). Vor allem mit Blick auf die miteinander verschränkten Umbrüche in Erwerbs- und Reproduktionssphäre wird daher deutlich, dass dem Strukturwandel der Arbeitswelt die Reproduktion von Geschlechterungleichheiten allgegenwärtig inhärent ist. Mehr noch gehen wir davon aus, dass ungleiche Arbeits- und Geschlechterverhältnisse sich wechselseitig bedingen und daher nicht getrennt voneinander untersucht werden können. Mit dem vorliegenden Sammelband greifen wir aber nicht nur den gesellschaftstheoretisch erkenntnisversprechenden Problemzusammenhang von Arbeit und Geschlecht auf, sondern plädieren darüber hinaus für einen Perspektivenwechsel auf dieses Wechselverhältnis von Nord nach Süd. Die sozialen Phänomene der hier nur angerissenen Strukturumbrüche werden in hiesigen Debatten meist als neuartig verstanden. Dabei wird weitgehend außer Acht gelassen, dass es sich bei heterogenen Arbeitsmärkten mit einem hohen Anteil marginalisierter, prekärer oder informeller Beschäftigung oder auch bei dem Arm-trotz-Arbeit-Phänomen um Strukturmerkmale handelt, die in Arbeitswelten des Globalen Südens seit langem den Normalfall darstellen. Diesem Umstand wird in den Sozialwissenschaften hierzulande kaum Beachtung geschenkt. Sicherlich ist in Teilen die arbeitssoziologische Forschung zuletzt internationaler geworden. So findet beispielsweise das Konzept der Prekarität, das vordergründig im Globalen Norden entstanden ist, zunehmend Anwendung anhand von Gegenstandsbereichen in Südgesellschaften (Sproll/Wehr 2014; Julian 2017; Webster u.a. 2008). Zudem wurden im Zuge der jüngeren Debatten mit Blick auf die Strukturumbrüche der hiesigen Arbeitsgesellschaften immer wieder Assoziationen zu den traditionellen Entwicklungsregionen des Globalen Südens laut. Diese vereinzelten Wortmeldungen identifizierten durchaus zunehmende Strukturähnlichkeiten zwischen den Arbeitsgesellschaften des Globalen Nordens und Südens. Ulrich Beck (1999) machte etwa prominent zum Ende der 1990er Jahre eine »Brasilianisierung« und damit »den Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft« (ebd.: 8) aus. Damals las sich die »Brasilianisierung« des Nordens für viele auch wie eine hoffnungsfrohe Prophezeiung: In Becks Entwurf der Bürgergesellschaft bestand die Möglichkeit, dass in den wohlhabenden Ländern des Nordens anders als im Globalen Süden ein »Ende der Erwerbsarbeit« (ebd.) dazu führen könnte, dass künftig fremdbestimmte Arbeitszeit in vielfältige und selbstbestimmte Freizeit transformiert würde. Dem stand allerdings ein zweites, von Beck-Leser_innen weniger oft rezitiertes Szenario gegenüber: »Länder der sogenannten ?Vormoderne? mit ihrem hohen Anteil an informeller, multiaktiver Arbeit könnten den sogenannten ?spätmodernen? Ländern des Kernwestens das Spiegelbild [ihrer Entwicklung] vorhalten.« (ebd.) Solche Diagnosen gemeinsamer struktureller Schnittmengen oder zumindest strukturähnlicher Homologien zwischen den Arbeitswelten des Nordens und des Südens leiden allerdings seit jeher unter einer stark assoziativen Schlagseite. Meistens wird darauf verzichtet, die Befunde und Erfahrungen zwischen dem Süden und dem Norden analytisch, methodisch und empirisch abzugleichen und konzeptionell neu aufzubereiten, um die assoziative Vermutung der Strukturähnlichkeit auf ein systematisches Fundament zu stellen. Der vorliegende Sammelband geht daher nicht von einer Untersuchung der Arbeitsgesellschaften des Globalen Nordens aus, sondern zielt umgekehrt darauf ab, aus den Befunden lateinamerikanischer Wissenschaftlerinnen zum Verhältnis von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen auf dem Subkontinent auch Erkenntnisse für die hiesigen Debatten zu generieren. Dreieinigkeit arbeitssoziologischer Engführungen Um einen Beitrag zur Ergründung des Strukturwandels der Arbeitsgesellschaften im Süd-Nord-Dialog zu leisten, gehen wir besonders auf Ansätze ein, die die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion oder die spezifische Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt in den Blick nehmen. Neben dem gegenwartsdiagnostischen Potential ermöglicht dieser analytische Zuschnitt, drei Grundausrichtungen dominanter sozialwissenschaftlicher Betrachtungen der Arbeitswelt produktiv zu begegnen, die sich - insbesondere mit Blick auf den von uns angeregten Wissenstransfer - als problematische, analytische Engführungen herausstellen. So zeichnen sich die großen gesellschaftstheoretischen Entwürfe der kapitalistischen Moderne erstens durch eine ausgeprägte Erwerbszentrierung aus. Die Sozialwissenschaften sahen sich mit dem Aufstieg der Industriegesellschaften, der für sie kennzeichnenden massenhaften Transformation von freigesetzter Arbeitskraft in Lohnarbeitsverhältnisse, dem Erstarken von Arbeiterbewegungen und der Konsolidierung sogenannter »Vollerwerbsgesellschaften« im sogenannten »goldenen Zeitalter des Kapitalismus« (Hobsbawm 1998) der Nachkriegsordnung konfrontiert. Dabei stellte die Betrachtung des »doppelt freien Lohnarbeiters« (Marx 1973: 181ff.) im rational und betriebsmäßig organisierten Kapitalismus (Weber 2016 [1905/1920) lange Zeit den zentralen empirischen Untersuchungsgegenstand und theoretischen Impulsgeber der tonangebenden sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen, Theorien und Kontroversen dar (Offe 1984). Auch wenn Arbeit als die eine »soziologische Schlüsselkategorie« (ebd. 13) heute an Strahlkraft eingebüßt hat, stellen die aus den Analysen der Industriegesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts gewonnenen Erkenntnisse nach wie vor den kategorialen Bezugsrahmen für weite Teile der Arbeitssoziologie und der Kapitalismusanalyse im Globalen Norden dar. Im Globalen Süden inspirierten diese Theorieentwürfe zweitens insbesondere im Zuge entwicklungstheoretischer Debatten in den 1960er und 70er Jahren Deutungen, nach denen die Arbeitsgesellschaften Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in defizitärer Abweichung gegenüber den entwickelten Industriegesellschaften des Globalen Nordens gelesen wurden. Ihrem historisch-konkreten Kontext enthoben und auf die Reise in den Süden geschickt, zeichneten sich die erwerbszentrierten Sichtweisen durch eine deutliche Eurozentrierung aus (zum Begriff: Conrad/Randeria 2002: 12). Die nordatlantische Industrialisierungserfahrung und die Verallgemeinerung formeller Lohnarbeit stellten in den beiden dominanten entwicklungstheoretischen Ansätze, der Modernisierungs- und der Dependenztheorie - trotz diametraler Grundannahmen - das Vorbild von Entwicklung dar. Auch nach dem »Ende der großen Theorien« (Menzel 1992) reproduzierten viele Studien zu Arbeitsgesellschaften des Südens diesen eurozentristischen Bias, indem sie Industrialisierung und Kapitalisierung der Arbeitsgesellschaften als wesentliche Entwicklungsindikatoren ansehen. Im Norden wie im Süden zeichnet sich das Gros erwerbs- sowie eurozentrierter Forschung drittens durch eine starke Androzentrierung aus. Das empirische Hauptaugenmerk konventioneller Ansätze lag gemäß des fordistischen male-breadwinner-Modells sogenannter »entwickelter« Industriegesellschaften auf dem männlichen Haushaltsvorstand. Frauen wurden aus diesem Blickwinkel meist ausgespart oder bestenfalls empirisch verzerrt als sozialstrukturelles »Anhängsel« ihrer Ehemänner erfasst. Damit blieben die ungleichheitsrelevanten Geschlechterverhältnisse der Arbeitswelt systematisch verkannt. Feministische Arbeiten zeigten bereits früh auf, dass dieser blinde Fleck insbesondere zwei Gegenstandsebenen betrifft: erstens die Reproduktionssphäre und hierbei insbesondere die überwiegend von Frauen verrichtete, unbezahlte Haushaltsarbeit (Costa/James 1973; Federici [1975] 2012; Bock/Duden 1977); zweitens die Herausbildung von typischen »Frauenberufen« sowie geschlechtsspezifischen Berufsfeldern oder Tätigkeitsbereichen und damit den Umstand, dass sich prestige-, einkommens- und karriereträchtige Teilbereiche der Arbeitswelt als Männer- und umgekehrt abgewertete Beschäftigungssegmente als Frauendomänen konstituierten (Walby 1986; Cockburn 1991; Wetterer 1994). Die Zentrierungen wurden zwar immer wieder in Zweifel gezogen, ohne dass es jedoch zu einem konsequenten Bruch mit dieser »Dreieinigkeit« der Engführungen kam, der eine befriedigenden Neubestimmung sozialwissenschaftlicher Perspektiven auf die Arbeitsgesellschaft im Norden wie Süden bedeutet hätte (Neuhauser/Sittel/Weinmann 2017). So stellen beispielweise postmoderne Kritiken die Erwerbszentrierung prominent infrage (Beck 1983). Daraufhin verschwand jedoch für weite Teile der Sozialwissenschaften die sozioökonomische Welt der Arbeit aus ihrem Gegenstandsbereich. In der Tradition des cultural turn kritisierten zentrale Arbeiten der Postcolonial Studies den Eurozentrismus (Said 1978; Bhabha 1994; Hall 2002) und in Teilen auch den Androzentrismus (Spivak 1988; Mohanty 1988) okzidentaler Epistemologie und Theoriebildung. Doch auch sie behandel(te)n strukturtheoretische Gegenstände wie den der Arbeit überwiegend nachrangig. In ihrer fundamentalen Kritik an konventionellen sozialwissenschaftlichen Zugängen zur Arbeitswelt gelang es der arbeitssoziologischen Frauen- und Geschlechterforschung wiederum, den Androzentrismus des male stream offenzulegen und ein erweitertes Arbeitsverständnis zu entwickeln, das auch andere, mehrheitlich von Frauen geleistete Arbeitsformen wie Haushaltsarbeit, Subsistenzarbeit oder abgewertete Lohnarbeit analytisch miteinbezog (Aulenbacher u.a. 2007; Notz 2011). Die Bedeutung der Sphäre der sozialen Reproduktion wurde bereits in den 1970er und 1980er Jahren insbesondere in der sogenannten Hausarbeitsdebatte diskutiert (Costa/James 1973). Wesentliche Grundannahmen wurden im Bielefelder Subsistenzansatz unter der expliziten Bezugnahme auf marginalisierte Frauen im Globalen Süden und ungleiche Nord-Süd-Verhältnisse weiterentwickelt (Werlhof/ Mies/Bennholdt-Thomsen 1988). Trotz dieser erkenntnisreichen Arbeiten bleibt auch die Frauen- und Geschlechterforschung zu großen Teilen auf den Globalen Norden fokussiert, reproduziert ihrerseits eurozentristische Engführungen und nimmt Befunde, Analysen und Theorieimpulse aus dem Süden wenig zur Kenntnis. Insgesamt bleibt daher bis heute als zentrale Herausforderung eine Dezentrierung aller drei Grundausrichtungen, ohne dabei die Arbeitsgesellschaft aus dem Blick zu verlieren. Aufbau des Buchs Der Sammelband begegnet den drei Engführungen, indem erstmals Forschungsarbeiten zum Thema Arbeit und Geschlecht aus dem lateinamerikanischen Raum in die deutschsprachige Diskussion eingeführt und kommentiert werden. Dabei blicken wir exemplarisch auf die lateinamerikanische Wissensproduktion in drei historischen Phasen: Krise der Importsubstituierenden Industrialisierung (circa 1955-1980); Neoliberalismus und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte (circa 1980-2000); Schaffensperiode und Erbe der (Mitte-)Links-Regierungen (circa 2000-2015). Diese drei Epochen decken sich mit unterschiedlichen ideengeschichtlichen Ausrichtungen. In der ersten Phase, den 1960-1970er Jahren, dominierten Entwicklungstheorien den lateinamerikanischen akademischen Diskurs und feministische Wissenschaftler_innen analysierten die besondere Benachteiligung von Frauen im Kontext strukturell heterogener Arbeitsmärkte. In der zweiten Phase, der neoliberalen Ära der 1980er und 1990er Jahre, ergründeten Wissenschaftler_innen vor dem Hintergrund einer Prekarisierung und Informalisierung Phänomene der »Feminisierung der Arbeit und Armut«. In der dritten Phase, während der ersten anderthalb Dekaden des 21. Jahrhunderts, kam es dann zur Konsolidierung »post-neoliberaler« Politiken im Zuge der Reformbemühungen der (Mitte-)Links-Regierungen und den ihnen - insbesondere mit Blick auf die Geschlechterfrage - inhärenten Ambivalenzen.