Leitbild Menschenwürde - Wie Selbsthilfeinitiativen den Gesundheits- und Sozialbereich demokratisieren

von: Hans Dietrich Engelhardt

Campus Verlag, 2011

ISBN: 9783593412290 , 277 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,99 EUR

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Leitbild Menschenwürde - Wie Selbsthilfeinitiativen den Gesundheits- und Sozialbereich demokratisieren


 

7. Demokratisierung und Modernisierung des Gesundheits- und Sozialbereichs: Wie alternative Leitbilder und Handlungsmodelle in die Gesellschaftsstruktur eingegangen sind (S. 191-192)

7.1 Vorbemerkung

Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen im weitesten Sinn sind uralte mit dem Menschsein verbundene, selbstverständliche Formen der Lebensgestaltung, der Daseinsvorsorge, der Nothilfe und der Existenzsicherung; sie sind eigentlich selbst erklärend. Entsprechende Belege sind in vielen verstreuten Dokumenten und Veröffentlichungen zu finden (zum Beispiel Der Ständige Ausschuss für Selbsthilfe 1956; Moeller 1978: 45–53).

Wenn man in den siebziger und achtziger Jahren in Verbindung mit der Zunahme von Selbsthilfegruppen von »neuer« Selbsthilfebewegung spricht, bezieht man sich üblicherweise zunächst weitgehend auf einen kleinen Ausschnitt aus der Vielfalt von Selbstorganisationsformen, nämlich die aus unterschiedlichen Krisen- und Notsituationen entstandenen Gruppen und Projekte, die sich zu Problemen im Umwelt-, Bildungs-, Kultur- und insbesondere im Sozial- und Gesundheitsbereich bilden.

Mit »neu« meint man zweierlei: Einerseits hebt man damit ins Bewusstsein, dass Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisation trotz der Vielfalt institutioneller Hilfe- und Mammutorganisationen als normale und vor allem schnelle Reaktionen auf aktuelle Probleme und Bedrohungen nach wie vor neu entstehen und unentbehrlich sind, nichts Außergewöhnliches sind und bleiben. Andererseits wird deutlich, dass diese Formen der Problembewältigung – gemessen an der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg – eine quantitative und qualitative Wiederbelebung mit neuen Akzenten erfahren, die den strukturellen Gegebenheiten und Herausforderungen der gegenwärtigen Gesellschaft entsprechen.

Schriftliche Darlegungen über Selbsthilfezusammenschlüsse als Erfahrungsberichte von einzelnen Personen, Selbstdarstellungen von Gruppen und Projekten sowie systematische Erörterungen und empirische Untersuchungen nehmen seit Beginn der 70er Jahre deutlich zu, erreichen einen ersten Höhepunkt in den 80er Jahren und zwar für Selbsthilfeinitiativen des Sozial- und Gesundheitsbereichs. Seit etwa Mitte der 90er Jahre nehmen sowohl die innovativen Selbsthilfezusammenschlüsse als auch auf sie bezogene Untersuchungen sehr stark ab, worauf ich später ausführlicher zurückkomme.

Die neuere Fixierung der Forschung auf Gesundheitsselbsthilfezusammenschlüsse bringt eine Art Tunnelblick auf die Selbsthilfeinitiativen insgesamt mit sich, der sich als Engführung der sozialpolitischen Diskussion und der Forschung erweist. Diese Engführung lässt die vielfältigen Facetten der Selbstorganisationslandschaft auch durch Übergehen der selbst organisierten und alternativen Projekte nur selektiv wahrnehmen und wichtige Komponenten zum Beispiel das Innovationspotenzial der sozialen Selbsthilfezusammenschlüsse sowie die gesamtgesellschaftliche Verortung der Selbsthilfebewegung insgesamt weitgehend aus dem Blick verlieren.