Unter der Hand - Zur Materialität der Neuen Typografie

von: Fabian Grütter

Campus Verlag, 2019

ISBN: 9783593442259 , 256 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 34,99 EUR

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Unter der Hand - Zur Materialität der Neuen Typografie


 

Geteilte Zeit. Eine Einführung Die Neue Typographie gestaltet den Text, indem sie den Blick des Lesers von einem Wort, einer Gruppe, zur andern führt. Jan Tschichold Sucht man nach einem Quellenbeleg, der das Bild dessen, was die Neue Typografie war, auf den Punkt bringt, bietet sich das eben angeführte Zitat aus Jan Tschicholds Die Neue Typographie von 1928 an. Indem es die modernistische Typografie der Zwischenkriegszeit als Unterfangen schildert, das es auf die Blickführung von Leserinnen abgesehen hatte, deckt es sich mit den historiografischen Befunden zum fraglichen Phänomen. In einer Untersuchung von 2005, die sich eingehend mit der Neuen Typografie auseinandersetzt, liest man beispielsweise: »The psychologists of the laboratories and the typographers of the avant-garde met on the common ground of visual attention as an object of knowledge.« Wie im Quellenbeleg wird auch hier darauf abgehoben, dass es der typografischen Avantgarde in erster Linie um Fragen der Visualität ging. Dieser Befund, so lässt sich verallgemeinern, ist Ausdruck einer Forschungsperspektive, wie sie jüngst den Blick auf die Neue Typografie strukturiert hat. So schien es in den vergangenen ca. 35 Jahren ausgemacht, die Neue Typografie als zentralen Bestandteil dessen zu verhandeln, was Janet Ward als Weimar surfaces bezeichnet hat. Darunter versteht sie Artefakte, die in der Zwischenkriegszeit Konjunktur hatten und die damalige visuelle Kultur, insbesondere die urbane, entscheidend formten - eine Kultur, die gemäß unserem heutigen Wissen geprägt war von einer Dynamisierung des Sehens. Dabei bewegte sie sich stets an der Grenze zur kompletten visuellen Überforderung. Verantwortlich dafür waren neue Technologien und Medien, die direkte Auswirkungen auf die visuelle Wahrnehmung hatten: Straßenbahnen, Autos und Flieger genauso wie modernistische Gebäudefassaden, Werbeplakate, Kinofilme oder Schaufenster - die ikonischen Weimar surfaces. Und damit auch die Neue Typografie. Dadurch, so die erkenntnisleitende These der vorliegenden Studie, sind aus einer körperhistorischen Warte diejenigen Aspekte der modernistischen Typografie unterbelichtet geblieben, die Aufschluss über die haptische Kultur der Zwischenkriegszeit geben. Das ist insofern bemerkenswert, als die Neue Typografie diesbezüglich erhellende Hinweise liefert. Tschicholds oben zitiertes Handbuch beispielsweise behandelt neben Fragen der Blickführung auch solche der haptisch-materiellen Kultur: Ohne Ordnung ist eine solche Vielheit [der Korrespondenz] nicht zu beherrschen. Das alte Quartformat und die verschiedenen Sonderformate, zu denen noch das alte Folioformat (ein Normversuch der Behörden) kam, erschweren durch ihre sehr verschiedenen Breiten und Höhen das Wiederauffinden, wenn sie es nicht ganz unmöglich machen. Über die Vielfalt an Papierformaten respektive die Normierungsversuche ebendieser durch Behörden kommt Tschichold, die Galionsfigur der modernistischen Typografie, auf die Handhabung von Geschäftsbriefen im Büroalltag zu sprechen. Als Anhänger der Neuen Typografie bekennt er sich zu den um 1920 veröffentlichten Papierstandards der Normungsin-stitute, wie man sie in vielen Ländern noch heute verwendet. Mit der Arbeit im Büro, dem darin notwendigen Umgang mit Papier und dessen Standardisierung durch Normungsinstitute ist ein Komplex angeschnitten, der ein zentraler Bestandteil der Rationalisierung von Arbeit darstellte, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur in den industriellen Fabriken, sondern auch in den Verwaltungsabteilungen um sich griff. Folgt man diesen arbeits-, wissens-, technik- und medienhistorischen Verwicklungen der Neuen Typografie, entsteht ein Bild von ihr, das sich aus einer körperhistorischen Perspektive vom bekannten unterscheidet: eines, bei dem sowohl auf Seiten der Typografen als auch auf Seiten der ?Nutzer? Aspekte der Handhabung im Mittelpunkt stehen. Damit werden die auf Visualität fokussierenden Charakterisierungen keineswegs negiert, sondern vielmehr ergänzt, sodass der kulturtechnische Einsatz der Neuen Typografie insgesamt klarer zutage tritt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich das Verständnis der Neuen Typografie durch die hier vorgenommenen Ergänzungen von visuellen durch haptische Aspekte nicht grundlegend verändern würde. Tatsächlich versucht die vorliegende Untersuchung zu zeigen, dass damit die stille Übereinkunft, avantgardistische Typografie als Bestandteil einer Hochkultur - irgendwo zwischen Futurismus, Konstruktivismus und Dadaismus - zu begreifen, relativiert werden muss. Polemisch ausgedrückt könnte man auch sagen: Modernistische Typografie als Gegenstand von Ausstellungen in Kunstmuseen sowie schönen coffee table books zu verstehen, heißt, das Phänomen anachronistisch zu deuten. Auch wenn dieser Anachronismus überaus ertragreiche Forschung hervorgebracht hat: Die Neue Typografie war vielmehr Bestandteil jenes technisch-wissenschaftlichen Dispositivs, das ab Ende des 19. Jahr-hunderts begann, die Künste und Geisteswissenschaften als Kulturträger abzulösen. So gesehen trifft es die einschlägige Bezeichnung des Neuen Typografen als »artist turned engineer« nur bedingt. Denn um Kunst ging es den wenigsten. Stattdessen verstanden sie sich als Techniker eines arbeitenden Körpers. Vor diesem Hintergrund der Rationalisierung gewinnt die historiografische Vernachlässigung der materiell-haptischen Aspekte der Neuen Typografie an Relevanz. Immerhin wurden mit ihnen auch die arbeitshistorischen Verknüpfungen verdeckt. Es ist damit eine für die Typografiegeschichte als Ganzes durchaus belangreiche Frage, woher das visuelle Primat stammt, wenn dessen Kehrseite, die Haptik, doch einen fruchtbaren Ansatzpunkt für die Arbeitsgeschichte bildet. Einen unerwarteten, aber entscheidenden Anstoß zur historischen Deu¬tung dieses Umstands liefert die niederländische Kulturtheoretikerin Mieke Bal. In ihrem Buch Quoting Caravaggio: Contemporary Art, Preposterous History von 1999 erzählt sie die Geschichte der Caravaggio-Rezeption in den Werken von zeitgenössischen Künstlern und Künstlerinnen wie Dotty Attie, Ken Aptekar oder Ana Mendieta. Dabei gelangt Bal zur Einsicht, dass chronologisch gesehen ältere Ereignisse und Phänomene die Nachwirkung ihrer späteren Verarbeitung sind. Mit anderen Worten: Der historische Maler Caravaggio ist stets das Produkt einer späteren künstlerischen Auseinandersetzung mit ihm. Das dadurch umrissene Geschichtsbild nennt Bal »preposterous history«. Es versteht Geschichte nicht als linearen oder gar teleologischen Prozess, sondern als auf Dauer gestellten Bruch: »In contrast to the notion of tradition based on continuity, I propose to look at contemporary ?Cara¬vaggio? as a kind of recycling that implies a break.« Die epistemologische Voraussetzung für eine solche Verwicklung (»entanglement«) zweier chronologisch unverbundener Zeiträume wie dem Barock und der Postmoderne bezeichnet Bal als »shared time«. Sie definiert sich durch »concerns that are both of today and then.« Für historische Phänomene bedeutet dies, dass dasjenige, was an ihnen augenscheinlich wird, stets ?das Andere? einer Ge¬genwart ist, aus der heraus die künstlerische Auseinandersetzung mit ihnen stattfindet. Für künstlerische Auseinandersetzungen mit weit zurückliegenden Ereignissen, Positionen oder Objekten wiederum bedeutet dies, dass sie immer auch Auseinandersetzungen mit ihrer eigenen Gegenwart sind. Diese grundlegende Einsicht Bals in die Mechanismen künstlerischer Zitationspraktiken und die damit einhergehenden Konsequenzen für die Vorstellung davon, was Geschichte ist, lassen sich auch auf andere Bereiche übertragen. Insbesondere auf historiografiegeschichtliche Fragen - also auf Fragen, die sich an die Geschichte konkreter Historiografien richten - verspricht Bals Konzept der preposterous history aufschlussreiche Antworten. Über ihre epistemologische Voraussetzung der shared time lassen sich nämlich die Mechanismen der Bedeutungsgewinnung hinter einer spezifischen Geschichte freilegen. Geht man davon aus, dass die Bedeutung einer Geschichte nicht das Resultat des (normalerweise chronologisch) erzählten Ablaufs von vergangenen Ereignissen ist, sondern vielmehr der Effekt von shared time respektive geteilten Anliegen zwischen der historischen Zeit der Erzählerin und der historischen Zeit des Erzählten, lässt sich die Genese konkreter Historiografien nachvollziehen. Voraussetzung dafür ist, dass neben der Zeit des Erzählten mittlerweile auch die Zeit der Erzählerin historisch geworden ist. Ist diese Bedingung erfüllt, kann man auf Basis der erzählten Zeit und der Zeit der Erzählerin eine Triangulation vornehmen, um der shared time, den geteilten Anliegen der beiden scheinbar isolierten Zeiten, auf die Spur zu kommen. Ohne ihre Richtigkeit in Frage zu stellen, lassen sich Wissensbestände auf diese Weise als historisch gewachsen nachvollziehen. Zum Tragen kommt diese vorderhand trivial anmutende Erkenntnis über die zeitliche Verflechtung von Geschichten und ihren Gegenständen spätestens dann, wenn man anerkennt, dass auch die Geschichtsschreibung - vergleichbar mit technischen Standards wie beispielsweise der QWERTY-Tastatur - Pfadabhängigkeiten aufweist; dass gewisse Modi des Erzählens gleich solchen des Gestaltens nach einer gewissen Zeit derart persistent werden, dass sie selbst gegenüber sinnvollen Veränderungen resistent werden. Dank Zehnfinger-Unterricht ist das im Hinblick auf das Design von Computertastaturen nicht weiter tragisch. Geschieht Vergleichbares allerdings in der Geschichtsschreibung, hat dies unter Umständen weitreichende Konsequenzen. In diesem Fall kann es zu einer Aufspaltung der Zeit der Erzählerin in eine tatsächliche und eine tradierte kommen: Erstere bezeichnet diejenige Zeit, in der die Geschichte geschrieben wird; letztere bezeichnet diejenige Zeit, die den Blick auf die erzählte Zeit strukturiert. Wenn die tradierte Zeit der Erzählerin nichts mehr mit ihrer tatsächlichen Zeit zu tun hat, zielt die erzählte Geschichte ins Nichts. Sie spricht dann zu einer Gegenwart, die längst Vergangenheit ist und versäumt es dadurch, das gegenwärtige Andere ihrer erzählten Zeit - die tatsächliche Gegenwart - zu adressieren. Dadurch kommt ihr jegliche Bedeutung abhanden.