Hausärztliche Krankheitskonzepte

von: Simon Kreher, Silke Brockmann, Martin Sielk, Stefan Wilm, Anja Wollny

Hogrefe AG, 2009

ISBN: 9783456946689 , 225 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 30,99 EUR

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Hausärztliche Krankheitskonzepte


 

6. Krankheitskonzepte als „social kinds“ in der gesellschaftlichen Kommunikation über Krankheit und Gesundheit (S. 195-196)

Simone Kreher

6.1 Hausärzte „verstehen“ – Wiederaufnahme einer Frage

Am Ende unseres Buches wollen wir für unsere Leserinnen und Leser die Frage des einleitenden Kapitels, ob sich Hausärzte diese „unerforschten Wesen“ jetzt, nach Abschluss des Projektes respektive nach der Lektüre des Buches besser verstehen lassen, wieder aufnehmen. Verstehen wir die Hausärzte nun tatsächlich besser, wenn wir „verstehen“, wie sie ihre Patienten verstehen oder nicht verstehen (können)? Verstehen ist dabei nicht in einem naiven alltagsweltlichen, empathischen oder psychotherapeutischen Sinn gemeint, sondern in einem theoretisch-kritischen sozialwissenschaftlich-reflexiven Sinn, wie es uns beispielsweise Ansätze der hermeneutischen Wissenssoziologie, der phänomenologischen Lebensweltanalyse oder interpretative Verfahren der qualitativen Sozialforschung nahe legen und die allesamt sozialen Sinn zu rekonstruieren suchen. An diese Frage schließt ganz unversehens eine weitere an, nämlich die, was es uns denn nützt, wenn wir sie besser verstehen?

Was haben wir gelernt (oder könnten wir lernen), wenn wir den sozialen Sinn rekonstruieren können, den Hausärzte ihrer Wahrnehmung und Handlung zuweisen? Wir haben oder hätten dann etwas gelernt über eine Ausschnitt des uns allen gemeinhin verborgenen oder für die empirisch forschende Sozialwissenschaft zumindest sehr schwer zugänglichen Mikrokosmos des Arzt-Seins. En passant können wir unseren Vorstellungen von „guten“, „idealen“, „vollkommenen“ oder „schrecklichen“ Ärzten einige präzisere von „realen“, im „Hier und Jetzt“ des Kontextes einer modernen Gesellschaft tätigen Ärzten hinzufügen.

Wir könnten so unsere Vorstellungen von den mit partialisierter funktionaler Verantwortung, neuesten biomedizinischen Kenntnissen oder trickreichen administrativen Strategien ausgestatten Medizinern ändern und sie vielleicht ein wenig mehr als Ärzte in einer „menschlich und funktional vollständige[n] und damit verantwortliche[n] ärztliche[n] Praxis“ sehen. Ärztliche Handlungs-Praxis ist sowohl für Alltagsmenschen als auch für die Medizin- oder Gesundheitssoziologen und für die Ärzte selbst letztlich dadurch gekennzeichnet, dass an „jeder Krankheit ein nicht wegzurationalisierender Mensch hängt“ (Dörner, 2003, S. 90).

Aus der Perspektive des beginnenden Projektes haben wir gerade zu dieser intimen, erwartungsgeladenen Beziehung zwischen Ärzten und den an der „Krankheit hängenden Menschen“ unser Set von Forschungsfragen zu den Fällen mit den vier von uns untersuchten Krankheitsbildern – Kopfschmerzen, akutem Husten, Ulcus cruris venosum und Schizophrenie – formuliert:

1. Wie nehmen Hausärzte ihre leidenden Patienten wahr?
2. Inwiefern können sie ihre Patienten verstehen?
3. Inwiefern wird im kollegialen Untereinander-Sprechen, in der Präsentation von Patienten, von bestimmten Krankheitsbildern und Symptomen sowie des Leidens an bestimmten Krankheiten im Interview Sinn konstituiert und zugeschrieben?

Aus der Perspektive des bearbeiteten Projektes stellt sich uns das Fragen-Set auf eine gänzlich veränderte Art und Weise dar. Wir fragen jetzt: K’ Welchen Grund geben praktizierende Hausärzte für die bohrenden, stechenden, klopfenden, unheimlichen und nicht weichenwollenden Kopfschmerzen an? A’ Wie hören sie ihre Patienten husten? U’ Wie fixieren sie das offene Bein ihrer Patienten? S’ Inwiefern fühlen sie sich von der Schizophrenie ihrer Patienten selbst bedroht?

Diese im Vergleich zum ersten Fragen-Set skurril oder abwegig oder unwissenschaftlich erscheinenden Fragen hätten wir vor dem Beginn des Projektes, dessen besondere Arbeitsweise und faszinierende Ergebnisse in diesem Kapitel entitätsübergreifend, kondensiert und zusammenfassend dargestellt werden sollen, nicht zu stellen vermocht, vielleicht auch nicht zu stellen gewagt.